Von NGOs besetzt

In Haiti arbeiten internationale Hilfsorganisationen weitgehend ohne Kontrolle

Am 12. Januar 2010 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7 die Stadt Port-au-Prince, tötete mehr als 200.000 Menschen und machte Millionen obdachlos. Hilfe aus dem Ausland strömte nach Haiti, fast eintausend Dollar für jeden Einwohner. Den größten Teil davon haben große internationale Hilfsorganisationen (NGOs) und private Firmen erhalten. Aber niemand hat von ihnen verlangt, dass sie nachvollziehbar darüber berichten, wie sie das Geld verwenden. Die Hilfe ist deshalb weniger wirksam als sie sein könnte. Und zum Teil richtet sie sogar Schaden an.

Wir haben Haiti im Juni besucht. Es war heiß und staubig, als wir am Flughafen von Port-au-Prince ankamen. Der meiste Schutt ist zwar weggeräumt, aber viele Straßen und Gebäude sind noch vom Beben gezeichnet. Als wir den Flughafen verließen und uns aufmachten in die Hügel oberhalb der Stadt, fielen uns bald die Mauern auf: bis zu sechs Meter hoch, versehen mit gut bewachten Eingangstoren. Hinter diesen Mauern verschanzen sich viele NGOs, ebenso Botschaften und diplomatische Vertretungen anderer Länder. Für uns symbolisierten diese Mauern die große Kluft zwischen der Gemeinschaft der ausländischen Entwicklungshelfer, die in den Hügeln von Pétionville und angrenzenden Bezirken komfortabel leben, und den Einwohnern von Port-au-Prince, die unter großer Armut, einem Mangel an sozialen Diensten und zunehmender Gewalt leiden.

Wir haben Universitätsprofessoren getroffen, einen Schriftsteller und einige Haitianer, die kleine zivilgesellschaftliche Organisationen betreiben. Alle kannten sich sehr gut aus mit der lokalen Kultur und lokalen Bräuchen. Die Gespräche mit ihnen haben uns geholfen zu verstehen, was in Haiti seit dem Erdbeben passiert ist. Die neun Milliarden US-Dollar zum Beispiel, die in den vergangenen 27 Monaten an NGOs und andere Auftragnehmer überwiesen wurden, wurden weitgehend ohne Beratung mit einheimischen Haitianern ausgegeben.

Kaum einer unserer Gesprächspartner wurde von Vertretern ausländischer Organisationen angesprochen, um herauszufinden, welche Hilfe eigentlich gebraucht würde. Die schwierige Sicherheitslage, die vorherrschende und sich hartnäckig haltende Sichtweise, es mangele an lokalen Fähigkeiten, und der Druck, Hilfsgelder schnell auszugeben – all das hat dazu geführt, dass NGOs Hilfsprogramme und Wiederaufbauprojekte durchgeführt haben, die den lokalen Bedürfnissen widersprechen und längerfristig manchmal sogar Schaden anrichten. Es fehlt an Rechenschaft: gegenüber den Gebern,  der haitianischen Regierung und gegenüber den Menschen, denen sie eigentlich dienen sollen.

Zur Logistikzentrale der Vereinten Nationen am Flughafen hatten Haitianer unmittelbar nach dem Beben praktisch keinen Zugang. Die brandneue US-Botschaft, die die weltweit größte Filiale der US-Hilfsagentur USAID beherbergt, gleicht einer Festung, umgeben von einem Wall aus Sandsäcken und bewaffneten Wachmännern. Der Mangel an Kommunikation hat zur Folge, dass Fehler gemacht werden: Wir haben zum Beispiel von einem Projekt gehört, bei dem eine NGO Unterkünfte ausgerechnet auf einem Wassereinzugsgebiet für Port-au-Prince errichtet und damit gegen Umweltschutzbestimmungen und gegen Vorgaben von Haitis Regierung verstoßen hat.Internationale Hilfsorganisationen wechseln dauernd ihr Personal. Nach dem Beben kamen und gingen die Führungsleute, wurde uns berichtet; manchmal blieben sie nur wenige Wochen. Neues Personal bedeutet jedes Mal neu anfangen zu müssen, oft mit Leuten, die Haiti kaum kennen und kein Kreolisch sprechen, nicht einmal Französisch. Es ist sehr teuer, Mitarbeiter aus dem Ausland in Haiti zu halten; Leitungspersonal kann mit mehr als 200.000 US-Dollar jährlich für Unterkunft und andere Kosten zu Buche schlagen.

Autoren

Julie Walz

arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft beim Center for Global Development in Washington.

Vijaya Ramachandran

Vijaya Ramachandran ist Direktorin für Energie und Entwicklung am Breakthrough Institute in Oakland, Kalifornien.


Einige unserer Gesprächspartner erklärten uns, dass ausländische Hilfsorganisationen und Arbeiter von Steuern befreit seien und häufig die Vorschriften zur Registrierung missachteten. Die Geber haben Milliarden Dollar dafür ausgegeben, Haitis zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen – meistens aber mit ihrem eigenen Material und Personal. Derweil schlagen sich die meisten Haitianer in Port-au-Prince als Obstverkäufer oder Kleinhändler am Straßenrand durch und haben selten genug Geld, um sich oder ihre Familien zu ernähren.

Wir haben wiederholt Geschichten gehört über die unbeabsichtigten Folgen, die der Zustrom von Arbeitern und Helfern aus dem Ausland auf Wirtschaft und Gesellschaft in Haiti hat. In einigen Gegenden sind die Immobilienpreise explodiert; die Mieten erreichen leicht 30.000 Dollar im Jahr. Restaurants und Supermärkte in Pétionville haben sich ganz auf den Geschmack der Fremden eingestellt; die Preise für Haushaltswaren sind so stark gestiegen, dass selbst Haitianer aus der Mittelklasse sie sich nicht mehr leisten können.

Auch soziale Gepflogenheiten werden berührt. Uns wurde von NGOs berichtet, die nach dem Beben Häuser gebaut haben, die für die meisten haitianischen Familien nicht geeignet sind: Die Tradition will es, dass sich einzelne Räume voneinander trennen lassen, egal wie klein das Haus ist. In den  neuen Häusern war das nicht möglich. Der Chef einer kleinen Basisorganisation erzählte uns, er habe Schwierigkeiten, Leute zu Gemeindetreffen oder Beratungen zusammenzutrommeln, wenn er nichts zu Essen oder Tagegelder anbiete – so wie die Hilfsorganisationen aus dem Ausland. Die haitianische Tradition des „konbit“ – im Dienst der Gemeinschaft nicht nur das eigene Land, sondern auch das der anderen Bauern zu bearbeiten – hat an Einfluss verloren, seitdem NGOs einzelne Bauern für Arbeiten wie Erosionsschutz bezahlen. Einer unserer Gesprächspartner hat uns  in freundlichem Ton erläutert, einige Hilfsorganisationen zerstörten langsam aber sicher das Gewebe der haitianischen Gesellschaft.

Fast drei Jahre nach dem Beben müssen wir uns fragen, was wir hätten anders machen können. Viele Haitianer plädieren dafür, dass die Geber mehr in Bildung und Ausbildung investieren. Andere schlagen vor, lokale und internationale Hilfsorganisationen sollten sich vernetzen, um sicherzustellen, dass die Projekte von Leuten mit lokalen Kenntnissen angeleitet werden. Unsere Gesprächspartner haben zudem an die ausländische Helfergemeinde appelliert, sie solle ihre Annahmen über Korruption überdenken. Denn diese haben dazu geführt, dass die Regierung von Haiti bislang praktisch vollkommen übergangen wurde. Stattdessen sollten die Helfer überlegen, wie sie die vorsichtigen Gehversuche der Regierung unterstützen könnten.

Wenig Begeisterung herrschte bei unseren Gesprächspartnern über Altkleider, gebrauchte Möbel und andere Dinge, mit denen Haiti seit dem Erdbeben überschwemmt wurde. Einer brachte es trocken auf den Punkt: „Wir brauchen dauerhafte Projekte und nicht bloß Übergangslösungen.“ Michael Clemens vom Center for Global Development hat vorgeschlagen, die USA sollten die Grenzen für mehr Arbeiter aus Haiti aufmachen, so dass sie Geld verdienen und nach Hause überweisen können. Und obwohl Washington und andere Geber die internationale Initiative für eine transparente Entwicklungshilfe unterzeichnet haben, sind die Zuflüsse nach Haiti nur schwer durchschaubar. Fast drei Jahre nach dem Beben wissen wir nicht, was mit dem Geld geschehen ist – nach unserer Reise ist uns das noch deutlicher bewusst geworden. Der Mangel an Rechenschaft über die Ausgaben von NGOs ist nicht akzeptabel; bessere Kontrollen, Evaluation und Berichterstattung sind nötig, um die Wirksamkeit der Hilfe von NGOs und staatlichen Gebern zu erhöhen. In Haiti und anderswo.         

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erschienen in Ausgabe 8 / 2012: Auf der Flucht
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