„Anders leben, damit andere überleben“

Zum Thema
Studie zur Nachhaltigkeit
Die Evangelische Kirche skizziert mit einem Grundsatzpapier ihr neues Entwicklungsverständnis. Thilo Hoppe, Vorsitzender der Kammer für nachhaltige Entwicklung, erklärt, warum sich Wachstum und Verzicht dabei nicht ausschließen.

Herr Hoppe, was macht ein „gutes Leben“ aus, das in der Studie als Ziel von Entwicklungspolitik genannt wird?
Wir haben in der Kammer lange darüber geredet, ob wir auch die theologischen, philosophischen und psychologischen Fragen diskutieren wollen, was ein Mensch braucht, um glücklich zu sein. Wir haben aber festgestellt, dass dafür eine eigene Studie nötig wäre. Deshalb haben wir uns vor allem darauf konzentriert, die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu definieren, die ein gutes Leben für alle möglich machen. Jeder Mensch muss in Würde und in Sicherheit leben können, jeder braucht Wohnraum, genug zu essen, Schutz vor Gewalt. Und jeder braucht ausreichend Freiraum, um seine Möglichkeiten zu entfalten – unter zwei Einschränkungen: nicht zulasten anderer Menschen, einschließlich nachfolgender Generationen, und es dürfen nicht die planetarischen Grenzen gesprengt werden.

Die Studie weist darauf hin, dass in der Kirche und in der Ökumene schon seit gut 40 Jahren über ein neues Entwicklungsverständnis gesprochen wird. Das hat offenbar niemand gehört, oder?
Ich sehe das umgekehrt: Die kirchliche Debatte zeigt jetzt Wirkung. Ich habe schon in den 1970er Jahren auf Kirchentagen gesagt, damals noch als Vertreter der evangelischen Jugend: Anders leben, damit andere überleben! Das blieb beschränkt auf das kirchliche Umfeld, und selbst dort hat es nicht die gesamte EKD erfasst. Es ist doch eine gute Entwicklung, dass wir jetzt einen CSU-Entwicklungsminister haben, der genau diese Slogans aufnimmt. Das war in der vergangenen Legislaturperiode noch nicht der Fall ...

... und kann sich nach der nächsten Wahl auch wieder ändern.
Ja, aber was vor 40 Jahren auf Kirchentagen gesagt wurde, ist heute Mainstream. Dass der Rat der EKD eine solche Studie einstimmig verabschiedet, wäre noch vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen. Da hätte es noch geheißen, wir brauchen Wirtschaftswachstum und so weiter. Das gerät zunehmend in Zweifel, und zwar weltweit. Die UN-Nachhaltigkeitsziele sind nicht perfekt, aber auch darin steht, dass unser Lebensstil nicht durchzuhalten ist. Die große Aufgabe besteht jetzt darin, die Erkenntnisse in Regierungshandeln umzusetzen. Und dafür gibt es in Deutschland und in anderen Industrieländern noch wenig Anzeichen.

Wie lässt sich ein würdiges Leben, frei von Armut und Hunger, für alle Menschen erreichen, ohne unseren Planeten zu zerstören? Zu dieser Frage hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Studie vorgelegt. Die Kammer ...

Laut einer Umfrage ist die Mehrheit der 30- bis 59-Jährigen in Deutschland mit ihrem Leben insgesamt glücklich und zufrieden. Macht das die geforderte gesellschaftliche Transformation leichter oder schwerer?
Es zeigt, wie groß die Aufgabe ist. Wir leben in einem Wohlstand, der uns allen gefällt, der bequem ist, aber der kein Vorbild für die weltweite Entwicklung sein kann. Unsere Studie hat zwei Botschaften: eine frohe für die, die noch nicht einmal das Nötigste haben und denen die Studie sagt, euch steht mehr zu. Für die Menschen in den wohlhabenden Ländern hingegen lautet die Botschaft: Dieser Lebensstil ist nicht haltbar. Uns war klar, dass das eine unangenehme Botschaft ist und dass die Aufgabe ohne eine spirituelle Transformation nicht zu schaffen ist. Jeder muss sich fragen: Was macht meine Lebensqualität aus? Ist es notwendig, jeden Tag Fleisch zu essen? Oder jedes Jahr eine Flugfernreise zu unternehmen? Oder ist es wichtiger, mich um meine Beziehungen zu kümmern, meine soziale und emotionale Kompetenz oder mein Verhältnis zur Natur zu verbessern?

Der Papst hat sich unlängst zu denselben Themen geäußert. Was unterscheidet die EKD-Studie von der Enzyklika „Laudato si“?
Beide Schriften machen deutlich, dass die Fixierung auf das Wachstumsdenken und das Bruttonsozialprodukt als einziger Maßstab für Wohlstand ungeeignet sind. Die Enzyklika beleuchtet sehr stark unser Verhältnis zur Natur. Das kommt in der Kammerstudie auch vor, aber nicht so ausführlich und so enthusiastisch wie in „Laudato si“.

Kritiker haben gesagt, der Papst stelle die Natur zu harmonisch dar und die moderne Zivilisation zu düster. Teilen Sie diese Kritik?
Die sehr harmonische Darstellung der Natur finden Sie bei uns nicht. Wir beschränken uns darauf, auf die planetarischen Grenzen zu verweisen. Wir beleuchten meiner Ansicht nach stärker als der Papst die zunehmende Ungleichheit in den Staaten und zwischen den Staaten. Das Besondere unserer Studie ist außerdem, dass sie sehr differenziert argumentiert.

Inwiefern?
Es gibt in der Diskussion ja zwei Pole: Die einen sagen, ohne Wirtschaftswachstum können wir die anstehenden Aufgaben gar nicht schaffen. Demgegenüber stehen Wachstumskritiker und die Degrowth-Bewegung, die sagen, Wachstum ist per se schlecht. Wir sagen, dass das die falsche Alternative ist. Man muss genau sehen, welche Bereiche noch wachsen können oder sogar müssen, zum Beispiel in den Entwicklungsländern oder im Dienstleistungssektor. Gleichzeitig gibt es Bereiche, die nicht mehr wachsen dürfen oder sogar schrumpfen müssen – etwa der Fleischkonsum in Industrieländern.

Was halten Sie von der Idee eines „grünen Wachstums“?
Das sehen wir sehr kritisch. Dahinter steht eine Technologiegläubigkeit, die nicht trägt. Unsere Studie plädiert stattdessen für die Idee der Suffizienz, also für eine Ökonomie des Genug. Natürlich muss es bessere Umwelttechnologie geben, natürlich müssen erneuerbare Energien und effiziente Transportmittel entwickelt und verbreitet werden. Aber wenn wir die planetarischen Grenzen ernst nehmen, kommen wir an der Suffizienz-Debatte nicht vorbei.

Sie sagen, in Entwicklungsländern muss es in vielen Bereichen noch Wachstum geben. Dürfen arme Länder mithilfe von Kohlekraft versuchen, die Lücke in der Energieversorgung zu schließen?
Nein, das sollten sie nicht tun. Die Entwicklungsländer sollten nicht alle Irrwege der Industrieländer wiederholen. Es gibt die Alternative der erneuerbaren Energien, die immer günstiger werden. Die reichen Länder sind gefordert, mittels Technologietransfer eine Revolution der erneuerbaren Energien in den Entwicklungsländern herbeizuführen.

Die Studie wirft einen sehr kritischen Blick auf die bisherige Entwicklungspolitik, die viel zu lange dem Wachstumsprinzip gefolgt sei. Haben alle Kammermitglieder diese Kritik geteilt?
Die Studie ist letztendlich im Konsens verabschiedet worden, aber es gab natürlich kontroverse Diskussionen. Eine Kritik lautete, der Rückblick auf die Entwicklungsdekaden der letzten Jahrzehnte sei zu allgemein. Es gab Stimmen, die Entwicklungspolitik etwa eines Erhard Epplers sei nicht differenziert genug gewürdigt worden. Das hat auch der Rat der EKD moniert. Dass es immer auch Gegenbewegungen zum weltweiten entwicklungspolitischen Mainstream gegeben hat, wird vielleicht nicht deutlich genug. Allerdings geht es der Studie ja nicht darum, die Politik des deutschen Entwicklungsministeriums unter die Lupe zu nehmen. Es ging uns darum, die Prioritäten und Glaubenssätze der internationalen Entwicklungspolitik zu verschiedenen Zeiten darzustellen und zu bewerten.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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