Blauhelme am Scheideweg

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Marco Dormino/UN Photo
Training für den Ernstfall: UN-Polizisten lernen im August 2013 in Mali, wie man eine aufgebrachte Menschenmenge bändigt.
Zukunft der Friedenseinsätze
Internationale Friedens­einsätze dienen zunehmend der Aufstands- und Terror­bekämpfung – und sind damit überfordert. Ob man sie deshalb aufrüsten soll, ist in den Vereinten Nationen umstritten.

Die US-Regierung will Friedensmissionen stärken. Sie drängt die Europäer, mehr Blauhelme zu stellen, und unterstützt sechs afrikanische Staaten beim Aufbau von Kontingenten, die schnell eingesetzt werden können. Präsident Obama hat zudem persönlich Ende September zu einem Gipfeltreffen geladen, um mehr Truppen und Spezialkräfte für die Vereinten Nationen (UN) zu mobilisieren. Die rund 50 vertretenen Staaten haben erklärt, im Bedarfsfall zusammen 40.000 neue Soldaten und Polizisten zu stellen. Das entspricht einem Drittel des Personals der derzeitigen UN-Missionen. Auch zehn Feldlazarette, 15 Ingenieursbetriebe und 40 Hubschrauber wurden zugesagt – Spezialkräfte, wie sie den Missionen in Mali, dem Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo fehlen. Ähnliche Versprechen vor einem Jahr wurden großenteils nicht gehalten, aber zumindest den USA scheint es ernst.

Die UN beklagen jedoch nicht nur, dass ihre Missionen zu wenig Mittel erhalten. Ein Hochrangiges Panel zu UN-Friedensoperationen, das UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Herbst 2014 eingesetzt hat, diagnostiziert in seinem Bericht vom Juni 2015, an die Blauhelme richteten sich unrealistische Erwartungen und sie würden zu wenig diplomatisch unterstützt. Experten wie Richard Gowan von der Universität New York und dem European Council on Foreign Relations sehen Friedensmissionen in einer tiefen Krise. Denn sie seien stark gewachsen und erhielten kaum lösbare Aufgaben in schwelenden Kriegen.

Der Umfang der Missionen hat nach dem Ende des Kalten Krieges in zwei Wellen zugenommen. Den ersten Höchststand erreichte die Zahl der Blauhelme in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Damals wollten die Supermächte Bürgerkriege im Süden beilegen, die sie zuvor geschürt hatten – etwa in Angola, Mosambik, Kambodscha und Guatemala. Das unterstützten UN-Missionen, die nach einem Friedensschluss entsandt wurden und neuartige Aufgaben bekamen: Sie halfen Rebellen demobilisieren, organisierten Wahlen, einige übernahmen in der Übergangszeit die Verwaltung. So etwas gehört heute zum Standardrepertoire. Insgesamt ist es so immer wieder gelungen, Rückfälle in den Krieg zu vermeiden.

Der UN-Sicherheitsrat sandte auch erstmals Missionen in laufende Kriege – ins frühere Jugoslawien, nach Somalia und Ruanda – mit dem Auftrag, Zivilisten zu schützen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Daran sind die Blauhelme damals weitgehend gescheitert.

Friedensmissionen konzentrieren sich auf Afrika

Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang stieg die Zahl der Friedenstruppen seit Ende der 1990er Jahre erneut stark an. Im Kosovo und in Osttimor halfen sie, die neu unabhängigen Staaten aufzubauen. Doch vor allem wurden sie entsandt, um in afrikanischen Ländern wie Burundi, der Elfenbeinküste, Liberia, Sierra Leone und der Demokratischen Republik Kongo Friedensprozesse zu stabilisieren. Friedensmissionen konzentrieren sich heute auf Afrika; rund vier Fünftel der Peacekeeper sind dort eingesetzt und die größten Missionen sind dort.

Sie werden zunehmend in „Partnerschaft“ mit afrikanischen Staaten und Regionalorganisationen durchgeführt: Diese übernehmen in manchen Friedenseinsätzen in Afrika eine führende Rolle und erhalten dazu finanzielle Hilfe aus Europa und den USA. So hat zunächst die Afrikanische Union (AU) 2004 eine Mission nach Darfur im Sudan geschickt; 2007 wurde sie von einer gemeinsamen Mission der AU und der UN abgelöst. Die seit 2006 laufende Mission in Somalia ist eine der AU allein, der UN-Sicherheitsrat hat sie aber gebilligt und das meiste Geld kommt aus Europa. Nicht alle Peacekeeper tragen also den blauen Helm der UN. Afrikanische Truppen, die in Ländern ihrer Region eingreifen, verfolgen allerdings zuweilen eigene Interessen – zum Beispiel Äthiopien in Somalia und der Tschad in Mali – und treffen im Gastland auf Misstrauen.

Lange folgten die Friedenseinsätze der „zweiten Welle“ drei Leitlinien. Erstens mussten Friedensvereinbarungen vorliegen – auch wenn die oft brüchig, unvollständig oder kaum wirksam waren. Zweitens gehörte zu ihrem Auftrag, Zivilisten vor Übergriffen zu schützen; sie durften nun auch dazu (statt wie zuvor nur zur Selbstverteidigung) Gewalt einsetzen. Drittens sollten diese Missionen zugleich den Staat stärken. Dies hat auch damit zu tun, dass seit den Terroranschlägen in New York 2001 schwache und scheiternde Staaten als Bedrohung der internationalen Sicherheit gelten.

Zwischen den Fronten schwelender Kriege

Doch dieses Paradigma trägt nicht mehr, seit Friedenstruppen zunehmend in schwelenden Kriegen operieren. Dort werden sie zum einen von Regierungen der Gastländer gezielt behindert oder auch benutzt. In Darfur treffen sie auf bürokratische Schikanen und werden immer wieder angegriffen – auch von mit der Regierung verbündeten Milizen. Weil sie auf die Duldung der Regierung letztlich angewiesen sind, sind sie Kämpfen oft ausgewichen und haben beschönigend über das Vorgehen Khartums in Darfur berichtet, statt Zivilisten entschlossen zu schützen. Im Ostkongo betrachtet die Regierung die Blauhelme als willkommene Hilfstruppen gegen ihre Gegner. Und im Südsudan findet sich die größte derzeitige UN-Mission, die den Aufbau des neuen Staates unterstützen sollte, seit Ende 2013 in einem neuen Bürgerkrieg zwischen allen Fronten wieder.

Zum anderen haben manche Friedensmissionen es neuerdings mit kaum greifbaren bewaffneten Banden zu tun, die Friedensvereinbarungen ignorieren wie in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Oder sie treffen auf Gruppen, die jeden Friedensprozess ablehnen und teils als Terroristen eingestuft werden – zum Beispiel auf al-Shabaab in Somalia und auf mit al-Qaida verbundene Islamisten in Mali.

Wenn Friedenstruppen einzelne Rebellengruppen bekämpfen, verschwimmt die Grenze zwischen Friedenseinsatz und Aufstandsbekämpfung. In Somalia und Mali ist sie für den Hamburger Friedensforscher Hans-Georg Ehrhart überschritten. Er nennt den Fall Mali in einem neuen Sammelband eine postmoderne Form der Aufstandsbekämpfung: Nachdem eine Intervention Frankreichs Anfang 2013 den Vormarsch der Islamisten gestoppt hatte, überließen Europa und die USA den weiteren Kampf afrikanischen Partnern unter UN-Mandat und beschränkten sich auf logistische Hilfe und den Einsatz von Spezialkräften und Drohnen.

Kaum lösbare Probleme

Unter solchen Umständen bekommen Friedenstruppen kaum lösbare Probleme. Ihre Akzeptanz am Einsatzort hängt sehr davon ab, dass sie die Sicherheit für die Bevölkerung verbessern. Auch unter schwierigen Umständen haben sie dafür oft Wege gefunden. Aber was sollen sie tun, wenn der Staat selbst Zivilisten angreift, die sie schützen sollen wie in Darfur? Werden sie zur Kriegspartei, wenn sie Rebellen bekämpfen, um den Staat zu stützen wie im Ostkongo und in Mali? Erleichtern oder erschweren sie so Friedensprozesse?

Auch unter den an Friedensmissionen beteiligten Ländern führen die neuen Einsatzbedingungen zu mehr Konflikten. Viele afrikanische Staaten möchten Frieden erzwingen, zum Beispiel in Somalia, und im eigenen Interesse auch „Terrorgruppen“ in ihrer Nachbarschaft bekämpfen wie in Mali. Südasiatische Länder halten dagegen das alte Prinzip hoch, dass Peacekeeper unparteilich sein und Gewalt vorwiegend zur Selbstverteidigung einsetzen sollen. Über Missionen und ihre Mandate können die Truppen stellenden Länder jedoch meist nicht mitreden, weil sie keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat haben. Südasiaten stellen daher Truppen oft nur mit dem Vorbehalt, sich nicht an Kämpfen zu beteiligen; es kommt vor, dass Kontingente Anweisungen zum Eingreifen nicht befolgen.

Autor

Bernd Ludermann

ist Chefredakteur von "welt-sichten".
Präsident Obamas Gipfel-Initiative vom September ist daher auch eine Stellungnahme für mehr Kampfkraft der UN. Er will Friedenstruppen aufrüsten. Denn er sieht sie als kostengünstige Möglichkeit, den Aufruhr in Krisenregionen einzugrenzen und gewalttätige Islamisten dort zu bekämpfen. Auf Widerspruch stoßen die USA bei Indien und anderen Ländern, die viele Blauhelme stellen und am traditionellen Peacekeeping festhalten möchten.

Der Bericht des Hochrangigen Panels zur Zukunft der UN-Friedensoperationen weist einen Mittelweg. Er empfiehlt zwar, Peacekeepern Gewalt zu mehr als nur der Selbstverteidigung zu erlauben. Er fordert Reformen, um Truppen schneller mobilisieren und besser ausrüsten zu können und die Planung im UN-Sekretariat zu verbessern. Er rät auch, enger mit Regionalorganisationen wie der AU zusammenzuarbeiten. Aber eine Hauptbotschaft ist, dass Kriege politisch gelöst werden müssen. Das Panel fordert den UN-Sicherheitsrat auf, mehr für Konfliktprävention zu tun. Die UN sollten ihre politischen Missionen mit den Friedenseinsätzen verzahnen. Das Panel zweifelt, ob UN-Operationen in Gebieten sinnvoll sind, für die kein Friedensprozess zumindest in Sicht ist. Und es empfiehlt, nur mit „extremer Vorsicht“ Kampfeinsätze gegen spezifische Gegner zu beschließen und Friedenstruppen nicht als Mittel des Anti-Terror-Kampfes einzusetzen.

Diese Warnung ist berechtigt. Wenn Friedensmissionen politische Lösungen ersetzen, statt sie zu unterstützen, oder wenn damit einzelne Rebellen- oder Terrorgruppen bekämpft werden, dann wird dieses wichtige Instrument der Friedensförderung weiter an Akzeptanz verlieren. Zudem kann man so vielleicht Gefahren für Europa und die USA einhegen, aber kaum Kriege beilegen. Staatsaufbau plus Aufstandsbekämpfung von außen haben nicht einmal in Afghanistan Frieden gebracht – und dort haben die NATO-Länder weit mehr Mittel eingesetzt, als die UN je zur Verfügung haben werden.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2015: Blauhelme: Abmarsch ins Ungewisse
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