Auf die Anklagebank statt auf den roten Teppich

Während des Krieges in der Demokratischen Republik Kongo von 1993 bis 2003 wurden zehntausende Menschen massakriert und fürchterliche Verbrechen begangen. Ein Bericht der Vereinten Nationen beschuldigt nun unter anderem die Regierung Ruandas, damals die Tötung tausender Hutu-Flüchtlinge angeordnet zu haben. Kigali reagiert empört. Wahrscheinlich werden Präsident Paul Kagame und seine Mitstreiter aus der ruandischen Armee auch dieses Mal ungeschoren davonkommen.

Von Filip Reyntjens

Am 1. Oktober hat der UN-Hochkommissar für Menschenrechte seinen Bericht über schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in der Demokratischen Republik Kongo zwischen 1993 und 2003 vorgelegt. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ hatte jedoch bereits Ende August Auszüge gebracht, die ihr zugespielt worden waren. Das hatte eine heftige Auseinandersetzung zur Folge: Ruanda, dem die schwersten Verbrechen vorgeworfen werden, nannte den Report „bösartig, beleidigend und lächerlich“ und drohte damit, seine Friedenstruppen aus dem Sudan zurückzuziehen.

Ruandas Reaktion war mehr die Ursache als die Folge der durchgesickerten Vorabveröffentlichung. Ein Entwurf des Berichtes wurde allen Beteiligten im Juli zugestellt, und Ruanda tat alles, um eine Veröffentlichung zu verhindern. Am 8. August schrieb der ruandische Außenminister an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, „Versuche, mit diesem Report an die Öffentlichkeit zu gehen, werden uns zwingen, von Ruandas verschiedenen Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen zurückzutreten, vor allem im Bereich der Friedenssicherung“.

Offenbar wurde die Vorabveröffentlichung organisiert, um Ruandas Versuchen entgegenzutreten, den Report zu unterdrücken. Für Kigali geht es um ein äußerst heikles Thema: Der Bericht macht Ruandas Regierung offiziell für einen Völkermord an Hutu-Flüchtlingen im Kongo verantwortlich – die selbe Regierung, die in den vergangenen 15 Jahren ihre Legitimität aus dem Genozid an den Tutsi 1994 gezogen hat. Sie hat den so genannten „Genozid-Bonus“ seither geschickt als Mittel bei Verhandlungen eingesetzt und wurde mit Sympathien, Hilfe und Straffreiheit belohnt.

Kigalis Erpressung schlug fehl: Der veröffentlichte Report unterscheidet sich nicht wesentlich von der Version, die vorab bekannt wurde. Er bestätigt, was schon weithin bekannt war: Während der zehn Jahre, die der Bericht untersucht, wurden im Kongo in großem Ausmaß Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wahrscheinlich auch Völkermord verübt. Der Bericht fast dankenswerterweise zuvor verstreute Informationen aus dutzenden Quellen zusammen und dokumentiert eine große Zahl bislang unbekannter Ereignisse.

Die schwersten und systematischsten Verbrechen werden Paul Kagames Ruanda zur Last gelegt. Der Bericht listet nicht nur dutzende Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf. Er verweist zugleich auf „Umstände und Tatsachen, von denen ein Gericht die Absicht ableiten könnte, die ethnische Gruppe der Hutu im Kongo zum Teil zu zerstören“ – ein Hinweis auf die Konvention gegen Völkermord. Ein Ermittlerteam der Vereinten Nationen kam 1998 zu dem selben Schluss: „Die systematische Tötung der Hutu-Flüchtlinge, die in Zaire geblieben waren, war ein scheußliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch die Begründung für diese Entscheidung ist maßgeblich dafür, ob diese Tötungen einen Genozid darstellen, einen Vorsatz also, die ethnische Gruppe der Hutu zum Teil auszulöschen.“ Die psychologisch aufgeladene Diskussion um das „G-Wort“ ist aber nicht so relevant. Die anderen dokumentierten Verbrechen sind schwer genug, um eine Strafverfolgung der Verdächtigen zu rechtfertigen. Der Bericht erwähnt noch nicht einmal die zehntausenden Zivilisten, die von der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), der derzeitigen Regierungspartei, in Ruanda 1994 sowie zwischen 1997 und 1998 getötet wurden.

Neben Ruanda waren zahlreiche andere regionale Kräfte für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich: in dem Bericht werden die Armeen von Zaire/Kongo, Angola, Burundi und Uganda genannt, aber auch inoffizielle bewaffnete Gruppen von ethnischen Milizen bis hin zu Rebellenbewegungen aus dem Kongo und seinen Nachbarländern. Doch außer einigen wenigen Milizenführern aus der kongolesischen Provinz Ituri und dem früheren Rebellenchef Jean-Pierre Bemba wurde niemand jemals strafrechtlich belangt.

Was ist nun zu tun, nachdem überzeugend gezeigt wurde, dass Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in großem Ausmaß begangen wurden – Verbrechen, denen keine Grenzen gesetzt waren? Früher lautete die Antwort Straflosigkeit, was stets zu neuen und noch schlimmeren Verbrechen geführt hat. Wahrscheinlich hätte Kigali 1996 und 1997 im Kongo mit größerer Zurückhaltung agiert, wenn das Internationale Ruanda-Tribunal signalisiert hätte, dass auch die Verantwortlichen für jene Verbrechen angeklagt werden, die die heutige Regierungspartei RPF 1994 in Ruanda verübt hat.

Der Bericht hebt hervor, dass Anklagen nicht nur notwendig sind, sondern eine internationale juristische Pflicht. Er spielt ferner eine Reihe von Szenarien durch. Die kongolesische Justiz ist zwar zuständig für Verbrechen, die auf kongolesischem Boden begangen wurden. Aber sie ist zu schwach und zu wenig unabhängig, um eine solch große Aufgabe zu meistern. Der Bericht fordert die Einrichtung einer juristischen Instanz mit nationalen und internationalen Mitgliedern. Er drängt darauf, dass auch die nationalen Justizbehörden Kongos die Prinzipien der universellen Rechtssprechung anwenden. In der Vergangenheit haben bereits einige Länder Hutus verurteilt, die im Verdacht standen, am Völkermord an den Tutsis von 1994 beteiligt gewesen zu sein. Der Gewinner, die RPF, ist bislang jedoch unberührt geblieben, auch vom Ruanda-Tribunal – mit den bekannten Folgen.

Rechtlich und philosophisch ist die Situation klar und einfach: Hunderte Verdächtige müssen angeklagt werden. Aber da gibt es eben noch die Realpolitik. Werden Präsident Kagame, sein Verteidigungsminister General James Kabarebe, der im Kongo sehr „aktiv“ war, und dutzende andere hohe ruandische Offiziere verhaftet, angeklagt und zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt werden? Sind die politischen Führer in Washington und London, die die ruandische Regierung unterstützt und für Kagame den roten Teppich ausgerollt haben, bereit, das zu akzeptieren?

Und würde die Afrikanische Union das geschehen lassen, jener Zusammenschluss von Staatsführern, die es ablehnen, den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern? Wür­de die Europäische Kommission, die Kabila gerne Lektionen in Sachen Menschenrechte erteilt, auf Strafverfolgung bestehen? Ich fürchte, die Antwort auf diese Fragen lautet „Nein“. Ruanda und andere Staaten und Akteure in der Region werden kleine politische Blessuren davontragen, doch die Täter werden erneut der Verfolgung und der Bestrafung entkommen. Wir werden alle mitschuldig daran sein, dass Millionen Zivilisten in Zentralafrika weiter bedroht werden von der Gewalt von Führern, die völlige Immunität genießen.

Filip Reyntjens ist Experte für Zentralafrika und lehrt am Institut für Entwicklungs­politik und Management der Universität Ant­­werpen. Der Text ist zuerst in der „Inter­national Justice Tribune“ (114) von Radio Netherlands Worldwide erschienen (www.rnw.nl/international-justice).

 

erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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