Der Staat wünscht andere Prediger

Salafismus
In Algerien erstarken erneut intolerante Strömungen des Islam. So lange sie unpolitisch waren, hat das Regime sie als nützlich betrachtet. Nun will es die traditionellen Geistlichen wieder stärken.

Dreiundzwanzig Jahre sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Algerien vergangen, der 200.000 Menschen das Leben gekostet hat und als „Schwarzes Jahrzehnt“ in die Geschichte des Landes eingegangen ist. Heute ist der Islamismus erneut Ursache von gesellschaftlichen und politischen Kontroversen. Zwar sind der politische Islam und gewaltbereite militante Gruppen in Algerien noch geschwächt. Aber immer lauter greifen Salafisten islamische Traditionen und Lebensweisen im Land an, die nicht der strengen, wortgetreuen Auslegung des Korans entsprechen, wie sie Salafisten propagieren.

Dass sie sich im Aufwind befinden, hat eine Reihe von Gründen. Algerien leidet wie viele Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas unter wirtschaftlichen Problemen, politischer Lähmung und Veränderungen in der Altersstruktur der Gesellschaft. Der Zulauf für die Salafisten ist Ausdruck einer moralischen Rebellion gegen den Staat und seine Institutionen. Mit strikten Moralvorschriften und dem Versprechen, gegen soziale Missstände vorzugehen, bietet der friedfertige Salafismus unzufriedenen Jugendlichen eine Alternative zu den vorherrschenden staatstreuen Strömungen des Islam, deren staatsnahe Institutionen im Niedergang sind. Und paradoxerweise hat auch der Staat den Salafismus gestärkt, indem er die Bewegung als ideologisches Gegengewicht zum politischen Islam und zu revolutionären Gruppen nutzte.

Salafisten haben sehr unterschiedliche Ansichten

Der algerische Salafismus ist ganz am konservativen Rand des theologischen und politischen Spektrums angesiedelt, und er ist keineswegs homogen. Salafisten haben teilweise sehr unterschiedliche Ansichten, beispielsweise zum Abfall vom Islam oder zum politischen Engagement. Die größte und prominenteste Gruppe sind die sogenannten quietistischen Salafisten. Sie halten sich aus der Politik heraus, lehnen Gewalt ab und werben dafür, die Gesellschaft an ihrer streng konservativen Theologie auszurichten. Sie engagieren sich in Wohltätigkeitsorganisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft ebenso wie im informellen Markt- und Straßenhandel. Die politische, revolutionäre Variante des Salafismus bleibt in Algerien eine Minderheit.



Der Salafismus kam mit der Wende zum 20. Jahrhundert nach Algerien. Er war eine transnational ausgerichtete Reformbewegung und betonte die Vereinbarkeit des Islam mit der Moderne. Doch in einer Gesellschaft, die sich noch im Würgegriff des Kolonialismus befand, konnten sich moderne Ideen nicht entfalten. So machte die Idee, dass auch der Islam sich entwickelt, allmählich kompromissloseren Strömungen Platz, darunter ultrakonservativen, die jede Form von Modernität und Säkularismus strikt ablehnten. Ihre ideologische Extremform ist der Wahhabismus, der seit Anfang der 1960er Jahre auch in Algerien von Saudi-Arabien unterstützt wird. Viele Algerier haben in Saudi-Arabien studiert, vor allem an der Islamischen Universität Medina.

Der Aufstieg der Salafisten-Bewegung

Nach dem Bürgerkrieg zwischen der Regierung und verschiedenen islamistischen Gruppen in den 1990er Jahren hatten die Algerier für gewaltbereite Ideologien wenig übrig. Die Salafisten begannen jedoch, das Satellitenfernsehen und das Internet zu nutzen, um ihr Image aufzupolieren, sich von Gewalt zu distanzieren und verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Es gelang ihnen, sich sowohl auf der politischen als auch auf der religiösen Bühne als glaubwürdige, apolitische Alternative zu den in Verruf geratenen islamistischen Parteien und den staatlich gestützten religiösen Institutionen darzustellen. Vielen vom Bürgerkrieg traumatisierten Algeriern schien der Salafismus einen neuen Weg zu eröffnen.

Da sich die Salafisten aus der Politik heraushielten und eine neutrale Haltung zum algerischen Regime einnahmen, durften sie eigene Schulen gründen, Geschäftsnetzwerke aufbauen und ihre traditionellen weißen Gewänder und Vollbärte tragen. Vor allem bei der Jugend, die vom maroden Zustand der algerischen Gesellschaft frustriert ist, finden die einfach zugänglichen salafistischen Netzwerke Anklang. Auch das algerische Regime profitiert vom Aufstieg dieser Bewegung: Sie trägt dazu bei, labile Jugendliche sowohl von Politik als auch von gewaltbereitem Extremismus fern zu halten.

Der Staat hat auch versucht, den Sufismus als Bollwerk gegen die radikalislamistischen Ideologien zu fördern, aber das hat kaum Früchte getragen. Sufis sind eine mystische Strömung im Islam, die oft unter anderem Heilige verehren. Eine im Jahr 2011 publizierte Meinungsumfrage der Universität von Algier und der amerikanischen Binghamton University ergab, dass die Mehrheit in Algerien im Sufismus zwar eine friedliche und tolerante Lehre sieht. Aber sie findet, dass einige ihrer religiösen Praktiken nicht der akzeptierten islamischen Lehre entsprechen. Die meisten beurteilten zudem die Bemühungen der Regierung, den Sufismus zu stützen, als politisch motiviert.

Während die Salafisten an Einfluss gewinnen, verlieren ihre islamistischen Rivalen an Boden. Anders als in Tunesien und Marokko, wo zur Hauptströmung gehörende islamistische Parteien zu einflussreichen intellektuellen und politischen Kräften herangewachsen sind, scheinen die algerischen Islamisten in intellektuelle Lethargie verfallen. Sie haben den Kontakt zu ihren Wählern verloren und können sich auf die neue Lage nach den jüngsten Umbrüchen einstellen. Ihre Nähe zum Staatsapparat und ihre auf materielle Vorteile ausgerichtete Hierarchie schrecken die islamistische Basis davon ab, sich politisch zu engagieren. Umso besser können sich die von Moral und Gleichheit redenden Salafisten als Gegengewicht etablieren.

Den Dschihadisten in deren eigener Sprache Kontra geben

Der Aufschwung der quietistischen Salafisten bringt einige Vorteile für das Regime. Zum einen können sie besser als der Staat den Dschihadisten in deren eigener Sprache Kontra geben. Zum anderen beunruhigt ihre Weltsicht gleichermaßen Säkularisten wie Liberale und vertieft damit die ideologischen Gräben in der Gesellschaft. Dem Regime nützen solche Spaltungen, stellt es sich doch gern als ultimativer Schiedsrichter solcher Konflikte dar. Gleichzeitig sind sich die Regierenden aber unsicher, wie sie mit den politisch aktiven Salafisten umgehen sollen.

Einige Beobachter glauben, dass das algerische Regime am Ende dem marokkanischen Modell folgen wird: Hardliner-Salafisten werden politisch eingebunden, sofern sie öffentlich der Gewalt und Unterwanderung des Staats abschwören. Die marokkanische Monarchie hat radikale Salafisten in Netzwerke und Parteien geholt, die sich gut zum Königshaus stellen; damit wollte sie zeigen, dass es immer eine Chance auf Rehabilitierung gibt. Gleichzeitig wollte sie damit die konservative Wählerschaft spalten und die Welle von Wahlerfolgen der moderat islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung aufhalten.

Zwar missbilligt die Mehrheit der algerischen Salafisten Gewalt und hält sich aus der Politik heraus. Aber die Stimmen der wenigen politischen Salafisten sind in Algerien die lautesten. Selbsternannte Aufwiegler-Prediger treten in jüngster Zeit entschlossener und selbstbewusster auf. Ihre ideologische Offensive für den „wahren“ islamischen Glauben und Lebenswandel führen sie in Moscheen, sozialen Medien und privaten Fernsehkanälen. Sie stellen die Autorität lokaler Imame infrage, verunglimpfen populäre religiöse Praktiken wie mystische Rituale und erlassen Rechtsgutachten – Fatwas –, die Kulturveranstaltungen, Kunstausstelllungen, Bankkredite und anderes als unislamisch verurteilen.

Der Hassprediger darf frei predigen

Das Verhältnis des algerischen Staats zu diesen Hasspredigern ist zwiespältig und kompliziert. Ein Beispiel war im Juni 2014 die Beratung zwischen Ahmed Ouayahia, dem Stabschef des Staatspräsdenten, und Madani Mezrag, einem ehemaligen islamistischen Guerillakämpfer, über Fragen einer Verfassungsänderung. Mezrag wird als Persönlichkeit von nationaler Bedeutung behandelt. Er hat Zugang zu den Medien, er darf frei predigen und Veranstaltungen organisieren. Nachdem er allerdings im Oktober 2015 Präsident Bouteflika im privaten Fernsehsender El Watan kritisiert hatte, weil der seiner neu gegründeten Partei „Algerische Wiederversöhnungs- und Heilsfront“ die juristische Anerkennung vorenthielt, legten die Behörden den Sender mit der Begründung still, er sei „informell und illegal“ betrieben worden. Mezrag persönlich blieb aber unbehelligt.

Ein weiterer prominenter Aufwiegler ist Abdel­fatah Hamadache. Er ist mit scharfen Predigten gegen algerische Muslime hervorgetreten, die ihren Glauben nicht praktizieren. Im Oktober 2014 startete er eine Kampagne der „Säuberung“ gegen Bars und Orte angeblicher Ausschweifung und Prostitution in Algeriens Küstengebieten. Im Dezember 2014 rief er dazu auf, den Schriftstellers Kamel Daoud wegen Verunglimpfung des Islam zu ermorden. Seine Forderung, diplomatische Beziehungen zum Islamischen Staat aufzunehmen, hat Aufruhr sogar unter islamistischen Hardlinern erzeugt, die ihn verdächtigen, mit den Sicherheitsorganen zusammenzuarbeiten.

Die Rückkehr radikaler Strömungen hat zu heftigen Debatten über die Krise der staatlich kontrollierten religiösen Institutionen geführt. Für viele Algerier haben diese ihre Funktion als Quelle von Inspiration und Orientierung verloren. Örtliche Imame, die einst die Weltsicht einfacher Algerier entscheidend prägten, werden zunehmend von selbsternannten Salafisten-Predigern übertönt, die einen Mangel an religiöser Bildung mit raffinierten Predigten und geschicktem Einsatz der sozialen Medien ausgleichen.

Die Regierung hat mehrfach versucht, traditionelle religiöse Institutionen zu wieder zu stärken, radikale salafistische Ideen zurückzudrängen und angesichts der Unzahl von Online-Fatwas für Ordnung zu sorgen. Mohamed Aïssa, seit 2014 Minister für religiöse Angelegenheiten, sieht es als vordringliche Aufgabe an, Imamen die weltoffene und harmonische Seite des Islam zu vermitteln, die der algerischen Tradition entspricht. Diese ist vom „goldenen Zeitalter“ der islamischen Herrschaft in Andalusien geprägt, wo im Mittelalter muslimische Geistliche Garanten für Toleranz und Innovation waren. Nur durch Rückbesinnung auf dieses Erbe könnten algerische Imame und Moscheen ein Bollwerk bilden gegen die Lehren der wahhabitisch beeinflussten, selbsternannten Kleriker.

Bachelor-Abschluss für Imame

Aïssa will auch den Religionsunterricht grundlegend reformieren. Zusammen mit Bildungsminister in Nouria Benghabrit dringt er darauf, die Lehrpläne an toleranten und weltoffenen Lehren des Islam auszurichten. Zudem wird überlegt, einen Bachelor-Abschluss für Imame einzuführen, der auf einer gemäßigten Variante der islamischen Rechtsprechung und dem Einsatz moderner Kommunikationsmittel fußt.

Das algerische Regime will zudem Gremien stärken, welche Moscheen und den religiösen Diskurs überwachen. Im März 2013 hat es den Imamen erlaubt, einen eigenen Interessenverband zu gründen – unter anderem um sich gegen das verteidigen zu können, was sie „unalgerische“ Formen des Islam nennen. Nach Schätzungen der Regierung fehlen für die etwa 22.000 Moscheen des Landes mindestens 7000 Imame. Schlimmer noch: Den Behörden mangelt es an Informationen über die Ausbildung und Finanzierung der salafistischen Imame, deren Predigten laut dem Religionsminister „irrational“ sind und sich auf die Flut von Online-Fatwas und über Twitter verbreitete religiöse Entscheide beziehen.

Autor

Anouar Boukhars

lehrt Internationale Beziehungen am McDaniel College in Westminster (Maryland). Der Artikel ist zuerst auf der Website des Instituts FRIDE erschienen.
Vor dem Hintergrund dieser „Fatwa-Anarchie“ hat die Regierung 2015 einen Nationalen Wissenschaftsrats geschaffen, der mit der Herausgabe „offizieller“ Fatwas betraut ist. Seine Mitglieder werden von der ägyptischen Al-Azhar-Universität unterstützt, die unter islamischen Rechtsgelehrten hohes Ansehen genießt. Der Rat hat bereits religiöse Erlasse herausgegeben. Sie erlauben zum Beispiel die Aufnahme von Bankkrediten zum Kauf staatlich geförderter Wohnungen, setzen Grenzen für die Organtransplantation und verbieten anonyme Eizellen- und Spermaspenden.

Der Versuch, den toleranten Geist der Tradition wiederzubeleben, kann ein wichtiges Mittel in der geistigen Auseinandersetzung mit dem absoluten Wahrheitsanspruch von Ideologien sein. Und doch muss der Staat bei der Erneuerung der religiösen Institutionen vorsichtig sein. Eine bestimmte Richtung im Islam zu fördern birgt das Risiko, sie als Sprachrohr des Regimes in Verruf zu bringen. Und auch glaubwürdige Theologen können nicht die Ursachen der Militanz beseitigen, die hauptsächlich politischer Natur sind. In einem Klima wirtschaftlicher Stagnation und politischer Lähmung, in dem es der Bevölkerung in Algerien an Perspektiven fehlt, wird es immer enttäuschte Jugendliche geben, die sich von radikalen Ideen und Gewalt angesprochen fühlen.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2016: Flucht und Migration: Dahin, wo es besser ist
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