Das Schweigen brechen

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Traumatherapie in Südafrika
Viele in Südafrika leiden unter Traumata, oft seit der Zeit der Apartheid. Westliche Therapien sind den Lebensumständen häufig nicht angemessen. Südafrikanische Psychologen entwickeln ihre eigenen Konzepte.

Zwei Frauen und 25 Männer singen und tanzen in einer Garage in der Township Thokoza bei Johannesburg. Es ist der Beginn ihrer Gruppensitzung. Im Halbdunkel sieht man Transparente an den Wänden: „Wir fordern Wiedergutmachung für die Verbrechen gegen die Menschheit“ steht dort und „Mission und Vision: Die Würde der Männer wiederherstellen“. Das Männerforum ist Teil der Khulumani Support Group, einer nichtstaatlichen Organisation, die sich seit fast 20 Jahren für die Entschädigung von Opfern der Apartheid einsetzt. Khulumani (auf Zulu: Sprich es aus!) hat 100.000 Mitglieder.

„Wir sind auch heute noch nicht frei“, erklärt die Leiterin der Gruppe, Nomarussia Bonase, zur Begrüßung. „Wir leben noch nicht in einer Demokratie, wir kämpfen noch für unsere Menschenrechte.“ Und dann wählt sie einen Vergleich, den jeder hier versteht: „Wir sind wie Autos nach einem Unfall, schwer beschädigt. Jetzt brauchen wir eine Reparatur.“

Den meisten Männern in dieser Selbsthilfe-Gruppe wurde während der Zeit der Rassentrennung, der Apartheid, schwere Gewalt angetan. Auch Tsietsi Motlokloa: Er geriet Anfang der 1990er Jahre in die ethnisch-politischen Auseinandersetzungen zwischen dem von Nelson Mandela angeführten Afrikanischen Nationalkongress (ANC) und der rivalisierenden Inkatha-Partei in den Townships rund um Johannesburg. Das weiße Regime hatte diese gewaltsamen Exzesse gezielt geschürt, um den Übergang zu einer Regierung der schwarzen Mehrheit zu verhindern.

„Ich wurde von Inkatha-Leuten angeschossen“, erzählt Motlokloa, „die kamen aus den Wohnheimen für Wanderarbeiter.“ Die Kugel durchschlug die linke Schulter. Bis heute hat der Vater von drei Kindern kaum Kraft in seinem linken Arm. Der Mittvierziger ist arbeitslos und hatte lange auf die staatliche Entschädigung von rund 2000 Euro gehofft. Damit wollte er seine Schulausbildung beenden. Aber er wurde nicht als Apartheidopfer anerkannt. Die Enttäuschung war enorm: „Ich empfand größeren Schmerz als bei meiner Armverletzung. Es brach mir das Herz.“ Die Gleichgültigkeit der Regierung sei sein Trauma, sagt er. Ständig stehe er unter Anspannung, „weil ich meinen Kindern keine gute Bildung für ihre Zukunft finanzieren kann“.

In der Terminologie westlicher Psychologen leidet Tsietsi Motlokloa unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, PTBS. Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt traumatische Erlebnisse als „Gewalt-erfahrungen – Überfall, Vergewaltigung, Misshandlung oder deren Versuch – aber auch Entführung, Naturkatastrophen oder Kriegsteilnahme“. Menschen, die an PTBS leiden, haben schwere Angstzustände und Alpträume, sie werden von Erinnerungen an das traumatische Ereignis gequält, manche sind reizbar und werden schnell wütend.

Laut dieser Definition, die auf Untersuchungen von Kriegsopfern und Ex-Soldaten Ende des 19. Jahrhunderts basiert, sind den Opfern ein oder mehrere zeitlich begrenzte traumatische Ereignisse zugestoßen. Sie haben das bis dahin stabile Leben stark erschüttert. Nach Überzeugung westlicher Psychologen kann die seelische Störung erfolgreich therapiert werden und der Traumatisierte kehrt danach in seinen normalen Alltag zurück. Die Auswirkungen des Traumas können in einer begrenzten Zeit bearbeitet und bewältigt werden.

Professor Ashraf Kagee von der Universität Stellenbosch und viele seiner Kollegen in Afrika und Asien stellen diese Auffassung in Frage. Psychologen aus den Industrieländern hätten ihr Trauma-Konzept blind auf Opfer in Ländern des Südens übertragen, kritisieren sie. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat der in Simbabwe geborene und in London lehrende Psychiater Derek Summerfield darauf aufmerksam gemacht. Er beschreibt Traumata als „soziale Konstruktionen“. Eine „Trauma-Industrie“ aus westlichen Ländern finanziere Psychologen in NGOs, die die Lebensbedingungen der Menschen und die Realitäten vor Ort ignorierten.

Summerfield moniert, dass ausländische Helfer mit ihren standardisierten Massen-Tests die brutalen Lebensverhältnisse wie Armut, gewaltsame Konflikte, lähmende Schulden, Umweltzerstörung und Mangel an Bildung, Gesundheit und Fürsorge außer Acht lassen. Millionen Menschen „sitzen im Sumpf schieren Überlebens fest“, schreibt Summerfield. Es stelle sich die Frage, was „geistige Gesundheit“ in einem kaputten sozialen Umfeld bedeute. Die Seele habe ihre Wurzeln auch außerhalb des Körpers, in der Art und Weise, wie die Menschen leben. Millionen Arme in den Slums der Welt befinden sich danach in einer Art Dauertrauma.

Die Narben der kolonialen Vergangenheit schmerzen noch

Diese Ansicht vertritt auch die Direktorin des Trauma-Zentrums für Überlebende von Gewalt und Folter in Kapstadt, die Psychologin Valdi van Reenen-Le Roux. Sie betont überdies die fortgesetzte Gewalt im Gegensatz zur westlichen Annahme eines singulären, vergangenen traumatischen Ereignisses. Die „Narben der kolonialen Vergangenheit“, und dazu gehört die Apartheidzeit,  schmerzten noch, sagt sie. „ Diese Traumata bahnen sich ihren Weg in die Gegenwart.“ Das zeige sich bei vielen nach dem Ende der Apartheid Geborenen, an ihren Depressionen und Suizidversuchen. Sie erlebten Verzweiflung und erlitten häusliche Gewalt angesichts einer „nicht lebenswerten Zukunft“.

Oder sie werden selbst gewalttätig: Das zeigt sich an den jüngsten Übergriffen auf Hunderte Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten. Bereits im Jahr 2008 hatten fremdenfeindliche Attacken das Land erschüttert. „Ich glaube, die noch immer unmenschliche Lebenssituation in den meisten Townships ist für die junge Generation nur sehr schwer zu verstehen“, sagt Valdi van Reenen-Le Roux. 

Auch die Fremden, denen viele Südafrikaner mit Misstrauen und Hass begegnen, haben eine Leidensgeschichte. Einige von ihnen kommen seit vier Monaten regelmäßig zum Psychologischen Dienst in der Johannesburger Township Sophiatown. Rund 20 Kongolesinnen sitzen im Warteraum, trinken Tee und unterhalten sich leise, jede mit einer beklemmenden Geschichte im seelischen Gepäck. Im Gruppenraum erklärt die Psychologin und Gründerin der Organisation, Johanna Kistner, heute gehe es um die Wohnsituation – also um Sorgen des täglichen Lebens.

Anny, mit Kopf- und Hüfttuch wie eine Frau vom Land gekleidet, erzählt: „Zuerst haben wir in Hillbrow gewohnt, konnten aber viele Monate nicht die Miete zahlen.“ Sie seien an die Luft gesetzt worden und hätten an einer Tankstelle im Freien übernachten müssen. Jetzt seien sie und ihr Mann im Wohnzimmer einer anderen Wohnung untergekommen, zusammen mit neun weiteren Personen. Die beiden Kinder schliefen im Esszimmer. „Die Vermieterin zwängt die Leute zusammen wie Kühe!“

Die Not des Alltags überlagert das seelische Leid

Alle Frauen berichten von der unerträglichen Enge in den nur durch Vorhänge voneinander getrennten Behausungen; dass diese bis zu 100 Euro monatlich kosteten und meist das Geld dafür fehle, dass sie manchmal hungern müssten und Medikamente gegen den Stress nehmen. Diane klagt, ihr Mann sei krank und arbeitslos. Die vierköpfige Familie lebe in der Mitte eines Raumes. „Andere Mieter müssen nachts durch unseren Abschnitt laufen, um zur Toilette zu gehen. Dieses Leben ist nicht gut für die Kinder.“ Sie beginnt lautlos zu weinen und auch die anderen können ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Keinerlei Privatsphäre beim Umkleiden vor den Kindern, während der Menstruation, bei der Liebe mit ihren Partnern – auch das kommt zur Sprache an diesem geschützten Ort. Nach anderthalb Stunden sind alle erschöpft.

Johanna Kistner und ihre Mitarbeiter leisten anfangs viel praktische Lebenshilfe für diese Frauen – Orientierung in der neuen Umgebung und in der neuen Sprache. Erst später werde über seelische Belastungen gesprochen: „Alle Frauen in dieser Gruppe sind traumatisiert. Sie leiden unter Depressionen, Angstzuständen, Stress. In manchen westlichen Ländern würde man sie in eine Klinik einweisen“, erklärt Johanna Kistner. Die Alltagsnöte seien oft derart bedrängend, dass sie den vergangenen Traumata neue hinzufügen könnten: Mietrückstände, Obdachlosigkeit, Hunger, das andauernde Bitten und Betteln.

„Mir scheint, unser Modell von Trauma und Traumatherapie beruht auf der These, dass guten Menschen manchmal Böses widerfährt. In Gesellschaften, die von Gewalt verwüstet sind, widerfährt guten Menschen fortwährend Böses“, schrieb die streitbare Psychologin 2014 in einem Aufsatz. Darum benutzen die Therapeuten vom Psychologischen Dienst den von Kollegen in Simbabwe geprägten Begriff: „landscape of suffering“. Die Opfer geraten in einer Landschaft des Leidens von einer Horror-Erfahrung in die nächste. Die Entwicklung ihrer Identität und ihre sozialen Netzwerke werden ständig gesprengt. Sichere Rückzugsorte für emotionales Auftanken existieren nicht.

Die Therapeutinnen begeben sich mit ihren Klientinnen auf eine lange Reise durch die Landschaften des Schreckens – ohne vorzugeben, sie könnten sie heilen. „Wir versuchen, Brücken zu bauen zwischen der gegenwärtig sehr negativen Identität und vergangenen Identitäten“, erklärt Johanna Kistner. So bleibe das Opfer Teil seiner Familie, auch wenn diese nicht mehr existiere. Auch die Heimat bleibe Teil der Person, obwohl sie nicht mehr dort lebt. Die Helfer in Sophiatown verstehen sich als zuverlässige Begleiterinnen auf dem Weg der Traumatisierten an beängstigende Orte, als Zeugen der Hilflosigkeit.

„Wir wollen die Würde der ­Männer wiederherstellen“

„Das ist eine Zeugenschaft, die nicht notwendigerweise rettet.“ Und die lange dauert. „Es gibt kein Ende der Behandlung, wir schließen keine Akte, als wäre jemand gestorben“, sagt Johanna Kistner entschieden. Und selbst wenn jemand gestorben sei, lebten die Kinder weiter. „Die haben wir auch integriert.“ Einige Kinder der Kongolesinnen erhielten Erziehungshilfe, andere beschäftigten sich in einer Gruppe für Neuankömmlinge mit Anpassungsproblemen und Schulbesuch.

Autorin

Birgit Morgenrath

ist freie Journalistin in Köln und berichtet seit vielen Jahren aus afrikanischen Ländern.
Im Laufe der Zeit lernen sich die Frauen einer Gruppe untereinander so gut kennen, dass sie eine Selbsthilfegruppe werden, ohne diesen Begriff zu kennen. So wie das Men’s Forum unter der Leitung von Nomarussia Bonase in Thokoza. „Wir haben uns selbst behandelt“,  sagt sie lächelnd, „wir verstehen den Schmerz. Wir kennen die Wege, um das Schweigen zu brechen. Weil der stille Schmerz der schlimmste ist.“ Die Anerkennung der Wahrheit sei der Beginn der Heilung. Die Regierenden dürften Opfer nicht nur als Abhängige sehen, sondern als Teil der aktiven Bürger, die das Land voranbringen wollen.

Mit Hilfe von Khulumani vertrauen sich Männer einander an und erkennen, dass sie als Folge ihrer traumatischen Erfahrungen zu Gewalttätern werden können, die vergewaltigen und Kinder missbrauchen. „Wir wollen die Würde der Männer wiederherstellen“, sagt Nomarussia und Tsietsi Motlokloa fügt hinzu: „Wir lernen voneinander, was für ein Typ Mann wir sein wollen. Wir wollen sorgende Väter sein, die von ihrer Familie geliebt werden. Ich möchte, dass meine Kinder sich freuen, wenn ich nach Hause komme. Und ich möchte, dass sie glücklich sind.“

Auch in Deutschland werden unterdessen die kritischen Stimmen aus Afrika und Asien an den westlichen Trauma-Konzepten gehört. Laut der Hilfsorganisation medico international holen sich psychosoziale Zentren für Flüchtlinge Anregungen bei Projekten wie Khulumani oder dem Psychologischen Dienst von Sophiatown.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2016: Flucht und Migration: Dahin, wo es besser ist
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