König Zucker erobert die Welt

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Nahrungsmittelindustrie
Die Zuckerindustrie hat es geschafft: Das „süße Gift“ ist in aller Munde. Das war nicht immer so. Gezielt haben führende Firmen die Produktion und den Absatz von Zucker ausgeweitet – auch mit Hilfe der Politik.

Was einst ein Luxus war, ist für Millionen Menschen zum Grundnahrungsmittel geworden: Weltweit wird mehr Zucker konsumiert als je zuvor. Die industriell verarbeiteten Lebensmittel und Getränke, denen er zugesetzt ist, sind inzwischen überall weit verbreitet, und die Hersteller verdienen viel Geld damit. Die Anbauflächen für Zuckerrohr und Zuckerrüben weiten sich immer mehr aus und beanspruchen heute etwa eine Fläche von der Größe Polens. In hundert Ländern wird daraus Zucker hergestellt.

Man könnte den Eindruck gewinnen, als führe der Zucker eine Art Eigenleben. Tatsächlich galt die Kulturpflanze Zuckerrohr in der Karibik der Kolonialzeit als „König Zucker“, der imstande war, über die ganze Region zu herrschen. Ein ähnlicher Gedanke steckt dahinter, wenn von „Zuckersucht“ die Rede ist: Das deutet auf eine Substanz, die unkontrollierbar beträchtlichen Einfluss auf den Körper ausübt. Doch Zucker ist ein Stoff, der von Menschen gezielt geschaffen und dessen Verbrauch kräftig gefördert wurde. Ein wesentlicher Beweggrund dafür war das Streben nach Gewinn, das sich in der Struktur der Zuckerwirtschaft widerspiegelt.

Der erste Schritt war, die Nachfrage nach Produkten aus Zuckerrohr und Zuckerrübe zu steigern. Dabei sollte man sich vor Augen führen: Zuckerpflanzen dienten nicht von Anfang an dazu, ein Nahrungsmittel zu erzeugen. Der raffinierte weiße Zucker, den wir in unseren Kaffee rühren, kommt ursprünglich aus Südasien, der Heimat des Zuckerrohrs. Nach heutiger Kenntnis wurde diese Pflanze zum ersten Mal vor mindestens 6000 Jahren in Neuguinea angebaut, wo sie wegen ihrer Süße gekaut und als Tierfutter verwendet wurde. In dieser Weltregion entwickelte sich die Methode, die Zuckerrohrstängel zu zerquetschen und ihren Saft zu einer zähen, süßen Masse zu verkochen. Er enthält viel Saccharose, der Zuckerart, aus der Haushaltszucker besteht. Die ersten Brocken aus unraffiniertem Zucker sind um 500 vor Christus in Indien belegt. Sie galten allerdings nicht als Nahrungsmittel, sondern als Arznei.

Eine alternative Verwendung des Zuckerrohrs ist heute der Biosprit. Rund 15 Prozent der weltweiten Ernte landen in Autotanks statt in Lebensmitteln. In Brasilien führte der Biosprit-Boom Mitte der 2000er Jahre zu einer rasanten Ausweitung der Zuckerindustrie. Nicht nur der Saft, auch die Nebenprodukte werden auf unterschiedliche Weise verwendet. Eins davon ist die Melasse, eine klebrige Substanz, die nach der Extraktion der Saccharose aus dem Saft übrigbleibt. Sie wurde lange Zeit als Tierfutter genutzt oder durch Fermentierung und Destillation zu Rum verarbeitet. Schließlich verwenden manche Zuckerfabriken die faserigen und sonstigen Überreste der Pflanze als Brennstoff.

Um Absatzmöglichkeiten für diese Produkte zu schaffen, mussten Märkte aufgebaut werden. Märkte für Biosprit etwa entstanden durch staatliche Vorschriften, laut denen Ölkonzerne ihre Autotreibstoffe zu einem festgelegten Prozentsatz mit Biosprit mischen mussten – angeblich, um den Klimawandel aufzuhalten. Ohne diese Bestimmungen und andere stützende Maßnahmen wie Steuererleichterungen würde die Nachfrage nach Biokraftstoff sicherlich fallen.

Der wichtigste Markt für Zuckerpflanzen bleibt jedoch die Nahrungsmittelindustrie. Der weit überwiegende Teil des Zuckers wird als Bestandteil von vorgefertigten Softdrinks, Süßwaren und Frühstücksflocken konsumiert. Und das ist kein Zufall. Diese Märkte werden von multinationalen Konzernen wie Coca-Cola, Hershey’s, Kellogg’s, Mars, Mondelez, Nestlé, PepsiCo und Unilever dominiert, die 2013 zusammen einen Gewinn von mehr als 50 Milliarden US-Dollar erzielten.

Der Zucker, insbesondere in Form von kleinen Snacks zwischendurch, hat sich als ausgesprochen hilfreich beim Aufweichen allgemein akzeptierter Essensregeln erwiesen. Die Konzerne betrieben eine Art koordinierter kultureller Manipulation, indem sie mit ihren riesigen Werbeetats Frauen und Kinder ins Visier nahmen und Lifestyle-Produkte ohne Nährwert auf den Markt warfen. Zuckerproduzenten und Lebensmittelkonzerne hatten ein gemeinsames Interesse daran, den Bedarf an industriell verarbeiteten gesüßten Produkten zu steigern. Das war das große Einigungsprojekt der Zuckerpolitik im 20. Jahrhundert.

Allerdings war ihre Allianz keineswegs frei von Spannungen – und dabei ging es vor allem um den Preis. Die Hersteller von Lebensmitteln wollen Zucker zu einem günstigen Preis beziehen. Deshalb befürworteten sie tendenziell den freien Handel in der Landwirtschaft. Hier setzt die zweite Maßnahme an, die Zuckerproduzenten ergriffen, um möglichst viel Gewinn zu machen: Abschottung gegenüber dem globalen Wettbewerb.

Deutscher Rübenzucker erobert die Welt

Auch an dieser Stelle lohnt ein Blick in die Geschichte. Die Rübenzuckerindustrie entstand im späten 18. Jahrhundert, nachdem es dem deutschen Chemiker Andreas Marggraf gelungen war, aus einer Spezialzüchtung der Runkelrübe Zucker zu gewinnen. Zu Beginn war die Methode äußerst ineffizient. Die nötige staatliche Unterstützung erhielt sie, als während der Napoleonischen Kriege (1803-1815) Handelsblockaden den Import von Rohrzucker aus den Plantagen der Karibik verhinderten. Regierungen auf dem europäischen Kontinent griffen zu Mitteln, die man heute als Schutz einer jungen Industrie bezeichnen würde: Sie stellten Anbauflächen zur Verfügung, investierten in Forschung, überwachten den Bau von Fabriken und schufen steuerliche Anreize. Als hilfreich erwies sich später auch die Abschaffung der Sklaverei: Der Wegfall billiger Arbeitskräfte bei der Ernte von Rohrzucker machte den Rübenzucker konkurrenzfähiger. Das steigerte die Produktion erheblich, so dass Deutschland Ende der 1890er Jahre mehr Zucker herstellte als die gesamte Karibik.

Nach wie vor genießen Zuckerrübenbauern in der Europäischen Union (EU) besonderen Schutz. Heute geschieht das in Form von Zollschranken, die billige Importe aus Lateinamerika verhindern. Dadurch liegt der Zuckerpreis in der EU üblicherweise höher als der Weltmarktpreis. Ehemaligen europäischen Kolonien und anderen armen Ländern, die Zucker exportieren, wird ein bevorzugter Zugang zum europäischen Binnenmarkt gewährt. Guyana, das über diesen Zugang verfügt, erhielt 2011 pro Tonne 615 US-Dollar. Guatemala, das seinen Zucker auf dem Weltmarkt absetzen muss, bekam lediglich 503 US-Dollar.

Am meisten profitieren jedoch die einheimischen Zuckerproduzenten von dieser europäischen Politik. Die vier großen unter ihnen, Südzucker, Nordzucker, der französische Tereos-Konzern und British Sugar, teilen sich fast zwei Drittel der EU-Produktion. Mit Hilfe ihrer Industrieverbände machten sie ihren Einfluss gegen Versuche geltend, den Außenhandel zu liberalisieren. Darüber hinaus haben sie Wege gefunden, das Angebot zu begrenzen und die Preise in die Höhe zu treiben. In den 2000er Jahren taten sich Südzucker, Nordzucker sowie das Unternehmen Pfeiffer & Langen zusammen, um den Absatz von Zucker in Deutschland zu beschränken. Das Bundeskartellamt belegte sie daraufhin wegen Preisabsprachen mit einer Strafe von 280 Millionen Euro.

Die EU steht mit dem Schutz ihrer Märkte nicht allein. Dank der Erfindung des Rübenzuckers ist es möglich geworden, Zucker nicht nur in tropischen, sondern auch in gemäßigten Zonen zu erzeugen. Fast alle Regierungen dort sahen sich veranlasst, die einheimische Zuckerindustrie zu fördern, um ihr Gewinne zu ermöglichen, die ländliche Entwicklung zu stärken und die Ernährung der Bevölkerung zu sichern. Das protektionistische Erbe dieser staatlichen Eingriffe ist einer der Gründe dafür, dass nur 37 Prozent des gesamten Zuckers, der heute produziert wird, auf den Weltmarkt gelangen. Der größte Teil wird noch immer auf den Binnenmärkten verkauft.

Subventionen und Sozialleistungen für Bauern

Die 1995 gegründete Welthandelsorganisation (WTO) sollte diese Handelshemmnisse abbauen, hat aber zumindest beim Zucker nur langsame Fortschritte erzielt; in der EU sollen die Zölle und Quoten 2017 enden. Staatliche Hilfen für die Landwirtschaft, etwa Subventionen für Kredite und Ernteversicherungen, hebeln zudem die Vorschriften der WTO aus. Ein weiteres Beispiel sind Sozialleistungen für Bauern, deren Zahlung in der EU durch die Gemeinsame Agrarpolitik erleichtert wird. Sie helfen den Landwirten, im Geschäft zu bleiben; denn obwohl der Zuckerpreis einigermaßen gesteuert wird, ist es schwer, mit dem Anbau von Zuckerrüben ein angemessenes Auskommen zu haben.

Eine dritte Maßnahme, mit der Zuckerproduzenten versuchten, ihren Gewinn zu erhöhen, ist die Senkung der Kosten. Hier besteht eine Spannung innerhalb der Zuckerindustrie: Die Fabriken möchten möglichst günstige Rohstoffe beziehen, um sie weiterzuverarbeiten; die Bauern wollen aber so viel wie möglich an Zuckerrohr oder -rüben verdienen. Wo die Weiterverarbeiter Genossenschaften sind, an denen Bauern die Mehrheit der Anteile halten wie im Fall Südzucker und Tereos, wird diese Spannung in Grenzen gehalten. In anderen Fällen birgt sie Konfliktpotenzial. So führte in Belize 2009 ein Versuch einer Zuckerfabrik, das Lohnsystem zu ändern, zu Demonstrationen. Ein Zuckerrohrbauer wurde bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet.

Auch die Bauern versuchen, die Kosten für ihre Produktionsfaktoren zu senken, darunter vor allem die Arbeit. Besonders in der Rohrzucker-Industrie sind noch immer Zustände verbreitet, die schon in der Kolonialzeit üblich waren: Migranten leisten unter gefährlichen Bedingungen und für einen Hungerlohn schwere Handarbeit. Ausgelagerte und saisonale Beschäftigung erschwert es den Arbeitern, Rechte geltend zu machen und gewerkschaftlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Häufig reicht ihr Lohn kaum zum Leben. Mitte der 2000er Jahre kam es in Kolumbien zu Streiks und Protesten von Landarbeitern, nachdem man sie von Angestellten zu unabhängigen Auftragnehmern gemacht und ihnen Sozialleistungen gestrichen hatte.

Ein Arbeiter schafft hundert Tonnen

Neben dem erhöhten Druck auf Zulieferer und Arbeiter sollen Kosten verringert werden, indem der Produktionsprozess mechanisiert, automatisiert und erweitert wird. Das ist ein kostspieliges Unterfangen. Viele Fabriken und Bauern haben hohe Schulden in Kauf genommen – allerdings mit der Aussicht, im Laufe der Zeit durch weniger Arbeitskräfte die Stückkosten zu senken. Ein Beispiel dafür liefert der brasilianische Bundesstaat São Paulo, in dem während des Booms von 2007 bis 2013 der Ernteertrag beim Zuckerrohr um zehn Prozent stieg, während die Beschäftigungsquote um sechs Prozent sank. Am härtesten traf es die ärmsten Arbeiter: Zehntausende Zuckerrohrschneider wurden entlassen und fanden keine andere Beschäftigung. In der EU zeigt sich ein ähnliches Bild: Für die Erzeugung von hundert Tonnen Zucker wird im Durchschnitt nur noch ein Arbeiter benötigt.

Als letzte Maßnahme, um ihren Profit zu steigern, haben Zuckerhersteller außerhalb ihrer „Heimatländer“ investiert. Die Liberalisierung des Handels in den vergangenen zehn Jahren und der Bedarf ausländischer Unternehmen an Geld und Technologie halfen ihnen dabei. 2014 hatte Südzucker 29 Fabriken im Ausland, darunter in Frankreich, Belgien und Polen. Nordzucker betrieb zehn Fabriken, unter anderem in Dänemark und in der Slowakei.

Andere Unternehmen sind in die Verarbeitung von Zuckerrohr eingestiegen. Die französische Firma Tereos hat nach Brasilien und Mosambik expandiert, während Associated British Foods, die Muttergesellschaft von British Sugar, eine kontrollierende Beteiligung an Afrikas größter Zuckerfabrik Illovo erworben hat. Die Welle von Übernahmen und Neugründungen hat die europäischen Zuckerproduzenten in transnationale Unternehmen verwandelt und die Quellen ihres Profits verlagert. Südzucker verdiente 2012 mit Zucker 511 Millionen Euro, nur ein Drittel davon in Deutschland. Die Kontrolle über Produktion und Handel in der Zuckerindustrie konzentriert sich immer mehr in der Hand weniger wohlhabender Eigentümer.

Autor

Ben Richardson

ist Professor für politische Ökonomie an der britischen Universität Warwick und setzt sich mit dem Netzwerk Ethical Sugar für bessere Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Zuckerindustrie ein.
Die vier Wege, die Zuckerproduzenten oft im Zusammenwirken mit dem Staat beschritten haben, um ihren Gewinn zu erhöhen, sind nicht uneingeschränkt zu verurteilen. Sie haben sehr erfolgreich dazu beigetragen, die Allgemeinheit reichlich mit einem Lebensmittel zu versorgen – auch wenn dadurch Krankheiten wie Karies und Diabetes begünstigt wurden. Das Gewinnmotiv der Industrie sollte deshalb wieder auf den ihm zukommenden Platz rücken: Es sollte als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck behandelt werden. Die unlängst in Mexiko, Großbritannien und der US-amerikanischen Stadt Philadelphia eingeführten Steuern auf zuckerhaltige Getränke sind ein erster Schritt in diese Richtung. Wenn die höheren Steuereinnahmen für sauberes Trinkwasser und Programme für gesunde Ernährung genutzt werden, ist es im Interesse der öffentlichen Gesundheit zu rechtfertigen, dass die Lebensmittelindustrie geringere Profite macht.

Ein anderes Beispiel ist fair gehandelter Zucker. Er wird in den ärmeren Teilen der Welt von Kleinbauern angebaut, die einen Aufschlag erhalten, den sie innerhalb ihrer Gemeinschaft investieren sollen (siehe den Beitrag auf Seite 28). Daran wird deutlich, wie unterschiedlich die Einnahmen aus dem Zuckerverkauf verteilt werden können, auch wenn es sich bei fairem Zucker nach wie vor um eine Marktnische handelt. Weniger als ein Prozent der gesamten Zuckerproduktion ist mit dem Fairtrade-Siegel zertifiziert. Das Zertifizierungssystem Bonsucro erfasst 2,5 Prozent der Produktion; hier geht es nicht darum, das Einkommen der Bauern zu erhöhen, sondern um die Einhaltung hoher Arbeits- und Umweltstandards entlang der gesamten Lieferkette.

Einen Nutzen für die Gesellschaft bringen Firmengewinne nicht zuletzt dann, wenn sie nach Recht und Gesetz erzielt werden. In einem neuen Bericht für das Forschungsnetzwerk Ethical Sugar haben meine Co-Autoren und ich festgestellt, dass allein im brasilianischen Bundesstaat São Paulo innerhalb der vergangenen sechs Jahre 16 Zuckerfirmen gegen Arbeitsschutz- oder Umweltgesetze verstoßen hatten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Staatsbeamte, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Anwohner solche Unternehmen zur Rechenschaft ziehen.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2016: Zucker: Für viele süß, für manche bitter
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