Wo die Hoffnung zu Hause ist

Flüchtlinge im Libanon
Überlebende des Völkermords an den Armeniern haben einst die Kleinstadt Anjar im Libanon aufgebaut. Jetzt suchen dort Flüchtlinge aus Syrien Schutz.

Der Weg nach Anjar ist leicht zu finden: Von der Autobahn von Beirut nach Damaskus biegt man wenige Hundert Meter vor der syrischen Grenze links ab. Keine Minute später ist die Kleinstadt erreicht. Plötzlich ist alles anders als in den libanesischen Orten, die man vorher passiert hat. Hohe Bäume säumen die breite Hauptstraße, in gleichmäßigen Abständen zweigen die Seitenstraßen im rechten Winkel ab, kein Müll liegt am Straßenrand, die Gehsteige wirken wie frisch gefegt. Alles mutet wie in einer wohlsituierten amerikanischen Vorstadtsiedlung an.

Vor dem Rathaus wartet Ani Manoukian, die durch Anjar führen wird. Die junge Armenierin stammt aus Aleppo und wohnt erst seit wenigen Monaten hier. Eigentlich heißt die 34-jährige Theologin anders. Da sie sich jedoch illegal im Libanon aufhält, möchte sie unerkannt bleiben. Manoukian hat einen Termin mit Bürgermeister Vartkes Khoshian organisiert. Ob er weiß, dass sie keine Papiere hat?

Vor einem Dreivierteljahrhundert gründeten rund 5000 Armenier das moderne Anjar. Die Männer und Frauen hatten 1915 am Berg Musa Dagh im Süden der Türkei Widerstand gegen die türkische Armee und gegen den Völkermord der Türken an ihrem Volk geleistet. 1939 wurden sie und ihre Kinder dann in Anjar angesiedelt, das damals französisches Mandatsgebiet war. Heute finden Armenier aus Syrien wie Ani Manoukian an diesem geschichtsträchtigen Ort Schutz. Ihre Familie darf kostenlos in der Wohnung eines Anjaris wohnen, der vor vielen Jahren ins Ausland gegangen ist.

Doch die kleine Stadt mit 3000 Einwohnern wird für sie nur eine Durchgangsstation sein. Ihre Visaanträge liegen längst bei der kanadischen Botschaft und ihr Vermieter hat bereits angekündigt, dass er andere Pläne mit seinem Haus hat „Ich habe Aleppo im Sommer 2012 das letzte Mal gesehen“, erzählt Manoukian. „Eigentlich wollte ich nur zwei Wochen Urlaub in Kessab bei meiner Großmutter machen.“ Dann aber sei der Krieg auch in ihrem Viertel ausgebrochen. An eine Rückkehr sei nicht mehr zu denken gewesen. Bald seien ihre Eltern und ihr Bruder nach Kessab nachgekommen, eine armenische Stadt im Nordwesten von Syrien direkt an der Grenze zur Türkei.

Ani Manoukian ging nach Beirut und studierte dort weiter Theologie. Als im Frühjahr 2014 die Nusra-Front Kessab einnahm, sei auch der Rest ihrer Familie geflohen, erst nach Latakia, dann nach Anjar. Manoukians Großmutter und ein paar andere Alte konnten nicht mit. Die Dschihadisten setzten sie in einen Bus und brachten sie über die nahe türkische Grenze. „Wir konnten meine Großmutter nach ein paar Wochen nach Beirut holen, wo sie kurz darauf in einem Altenheim gestorben ist. Sie hat das nicht verkraftet“, sagt Manoukian.

Die meisten Flüchtlinge, die sich nach Anjar aufmachen, sind sunnitische Muslime. 30.000 leben in Camps außerhalb der Stadt; die Gemeinde sorgt für die Müllabfuhr und die Wasserversorgung. In Anjar selbst dürfen Muslime sich aber in der Regel keine Unterkunft suchen. Zu groß ist die Angst, dass irgendwann der Proporz nicht mehr stimmen könnte und Nicht-Armenier in Gemeindefragen mitentscheiden könnten. 85 Prozent der Armenier sind orthodoxe Christen, die übrigen 15 Prozent sind katholisch oder evangelisch.

Armenische Flüchtlinge wie Ani Manoukian dagegen finden Unterschlupf in der Stadt. Zurzeit sind es vor allem Christen aus Aleppo, die in den leerstehenden Häusern wohnen. Vor zwei Jahren waren es noch vorwiegend Armenier aus Kessab. Deren 6000 Bewohner mussten im Frühjahr 2014 vor der Nusra-Front fliehen, rund 40 Familien kamen in Anjar unter. Vier Monate später hatten die syrischen Truppen die Dschihadisten aus Kessab vertrieben, doch nur ein Drittel der Einwohner kehrte zurück. Die anderen hatten bereits Einreisevisa bei westlichen Botschaften beantragt.

Ani Manoukian hat im Sommer 2016 in Beirut ihren Master in evangelischer Theologie abgeschlossen. Damit war allerdings ihr Aufenthaltsrecht als Studentin im Libanon erloschen. Nach Aleppo kann und will sie nicht mehr. Das Haus ihrer Eltern ist zerbombt, Freunde und Nachbarn sind längst geflohen. Doch nachträglich kann sie sich nicht als Flüchtling registrieren. Das geht im Libanon seit einigen Monaten nicht mehr. Nun muss sie bei jedem Checkpoint, von denen es viele in dem kleinen Land gibt, befürchten, dass sie kontrolliert wird. Das würde ihre sofortige Abschiebung nach Syrien bedeuten.

Bürgermeister Vartkes Khoshian wäre vermutlich der Letzte, der sie bei den libanesischen Behörden anzeigen würde. In Anjar gelten andere Regeln. Die Leute hier achten peinlich darauf, dass sich niemand in Angelegenheiten ihrer Gemeinde einmischt. Es würde außerdem kein Armenier einen anderen Armenier in Not verraten. Das kollektive Gedächtnis an den Völkermord 1915 schweißt immer noch zusammen.

Vartkes Khoshian hat den Umweltingenieur Boghos Ghougassian mit zum Gespräch in sein Büro gebeten. Ghougassian erzählt, wie die Armenier vom Musa Dagh hier am trockenen Ostrand der Bekaa-Ebene in wenigen Jahrzehnten ein Paradies schufen. „Die Menschen mussten dafür sehr hart arbeiten.“ Diejenigen, von denen der Endsechziger spricht, sind unter anderem seine Eltern und Großeltern. Es sei noch nicht lange her, dass hier nur Wüste war, sagt er und verweist stolz auf die vielen Bäume, die heute überall in Anjar wachsen, das die Fläche einer mittleren Kleinstadt in Deutschland einnimmt.

Eigentlich beginnt die Geschichte des heutigen Anjar schon 1915 im Osmanischen Reich. Bewohner von sechs armenischen Dörfern am Fuße des Musa Dagh hatten sich nicht von den türkischen Soldaten auf den Todesmarsch in die syrische Wüste zwingen lassen und sich in der Wildnis des Berges verschanzt. „Mit Jagdflinten und Kleinkarabinern haben wir den türkischen Truppen Widerstand geleistet“, sagt Ghougassian, als sei er selbst dabei gewesen. Bürgermeister Khoshian ergänzt: „Wir sind nicht bloß Überlebende des Genozids, wir waren die einzigen, die sich verteidigt haben. Wir Anjaris sind anders als die anderen Armenier.“

Im Büro des Bürgermeisters hängt ein großes Gemälde, das einen schneebedeckten Berg zeigt, auf dessen Gipfel eine überdimensionierte weiße Fahne mit einem roten Kreuz weht. Mit einer solchen Fahne, zusammengenäht aus einzelnen Kleidungsstücken, hatten die Armenier am Musa Dagh nach mehreren Wochen Belagerung französische Seeleute auf dem Mittelmeer auf sich aufmerksam gemacht. Die Franzosen evakuierten 4200 Männer, Frauen und Kinder auf Schiffen nach Port Said in Ägypten, wo die Armenier die nächsten drei Jahre in Zelten leben sollten.

Als die Franzosen 1918 ihre Kontrolle auf die kilikische Küste und das Gebiet um den Musa Dagh ausgeweitet hatten, kehrten die Armenier in ihre Dörfer zurück. Das Leben ging weiter, bis sich 1939 die französische Mandatsmacht aus diesem Gebiet zurückzog. Unter türkischer Regierung wollte aber kein Armenier vom Musa Dagh je wieder leben. Die Franzosen setzten sich erneut für sie ein, kauften das Land in der libanesischen Bekaa-Ebene und halfen den Armeniern bei der Ansiedlung in Anjar.

„Die ersten beiden Jahre mussten unsere Vorfahren in Zelten leben, besser gesagt überleben“, erzählt Ghougassian. Es gab nur eine Wasserquelle, die Gegend war von Malaria verseucht. „Bei der Belagerung des Musa Dagh sind nur 18 Leute gestorben. Im ersten Jahr in Anjar hingegen haben wir zehn Menschen pro Tag durch Malaria verloren. Das war unser eigentlicher Überlebenskampf.“ Gleichzeitig begannen die Menschen, ihre neue Stadt zu planen. Jede Familie bekam 400 Quadratmeter Land, was ungefähr einem Basketballfeld entspricht. Darauf wurden Ein-Zimmer-Häuser gebaut, vier auf vier Meter, nicht mehr, damit der zugehörige Garten für die Selbstversorgung reichte.

Autorin

Katja Dorothea Buck

ist Religionswissen- schaftlerin und Journalistin in Tübingen.
Araksi Kendirjian hat acht Kinder auf den 16 Quadratmetern eines solchen Hauses großgezogen. „Und alle waren immer sauber und gut gekleidet“, sagt sie stolz. Araksi Kendirjian ist die älteste noch lebende Bewohnerin von Anjar. Die 99-Jährige sitzt in einem hellblauen Morgenmantel auf einem Sofa in ihrem kleinen Zimmer und schaut fern. An der Wand steht ein Ölofen, der die Kälte dieses Novemberabends in dem Zimmer erträglich macht. Kendirjian wurde während der Deportation in Port Said geboren, hat ihre Kindheit und Jugend am Musa Dagh verbracht und dort auch ihren Mann geheiratet, dessen Bild über dem Ehebett hängt. Ihre ersten beiden Kinder sind am Musa Dagh zur Welt gekommen. Als sie mit dem dritten schwanger war, kam sie nach Anjar. Die ersten beiden Jahre im Zelt seien sehr schwer gewesen. „Als wir dann aber in unser kleines Haus mit dem Garten ziehen konnten, wurde es besser.“

Aus der Zeit am Musa Dagh erinnert sich Araksi Kendirjian vor allem noch an eine Quelle, die der goldene Mund genannt wurde. Die Quelle sei mit Steinen von fünf Kirchen gefasst gewesen, die während des Genozids zerstört wurden. „Das waren wunderschöne Steine“, sagt sie und beginnt plötzlich ein armenisches Lied zu singen. Mit fester Stimme singt sie Strophe um Strophe, hebt irgendwann die Arme, steht auf und tanzt dazu in wiegenden Schritten.

Ani Manoukians Zeit in Anjar wird am nächsten Tag enden. Der Vermieter will nicht länger warten. In Bourj Hammoud, dem armenischen Stadtteil von Beirut, haben sie und ihre Familie eine kleine Wohnung gefunden – die nächste Etappe auf ihrer langen Suche nach einer neuen Heimat. Am Abend des nächsten Tages erzählt sie am Telefon: „Wir haben keinen Stuhl, keinen Tisch und kein Bett. Wir schlafen auf dem Boden. Aber irgendwie wird schon alles werden. Wir Armenier sind schließlich ein auferstandenes Volk.“

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erschienen in Ausgabe 2 / 2017: Europa: Die zaudernde Weltmacht
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