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Weltbürger
Die globalisierte Elite hat ein Problem: Wer nur die ganze Welt im Blick hat, drückt sich dort vor politischer Verantwortung.

Unlängst hat die britische Premierministerin Theresa May viele geschockt, als sie die Idee des Weltbürgers verunglimpfte. „Wenn Sie glauben, dass Sie ein Weltbürger sind“, sagte sie, „dann sind Sie in Wirklichkeit ein Bürger von nirgendwo.“ Die Medien und liberale Kommentatoren reagierten sowohl spöttisch als auch beunruhigt auf ihre Bemerkung. Der hilfreichste Staatsbürger heutzutage sei derjenige, der sich dem Wohlbefinden des Planeten widmet und nicht nur seiner Heimatprovinz, belehrte sie ein Kommentar. Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ nannte Mays Aussage eine „illiberale“ Kehrtwende. Ein Wissenschaftler beschuldigte sie, die Werte der Aufklärung zu verleugnen. 

 Ich weiß, wie ein Weltbürger aussieht: Ich sehe ein perfektes Exemplar jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel schaue. Ich bin in einem Land geboren, lebe in einem anderen und trage die Reisepässe beider Staaten. Ich schreibe über die globale Wirtschaft, was mich zu weit entfernten Orten führt. Ich verbringe mehr Zeit mit Reisen ins Ausland als innerhalb der beiden Länder, die mich als ihren Bürger betrachten. Ich verschlinge internationale Zeitungen, während meine Lokalzeitung meistens wochenlang ungeöffnet liegen bleibt. Den meisten meiner Arbeitskollegen geht es ähnlich.

An wen richten sich Weltbürger?

Und doch trifft Theresa Mays Kommentar einen Nerv, er enthält eine wichtige Wahrheit. Und dass wir – die globale Finanz-, Politik- und Technokratieelite – diese Wahrheit nicht wahrhaben wollen, zeigt, wie weit wir uns von unseren Landsleuten entfernt haben und dass wir ihr Vertrauen verloren haben.

Das Oxford English Dictionary definiert „Bürger“ als einen rechtlich anerkannten Angehörigen eines Staates oder einer Staatengemeinschaft. Bürgerschaft setzt also eine etablierte politische Gemeinschaft voraus. Länder haben solche Gemeinschaften, die Welt nicht. Befürworter eines Weltbürgertums räumen ein, dass sie den Begriff nicht wörtlich meinen, sondern im übertragenen Sinn. Sie argumentieren, dass die technische Revolution in der Kommunikation und die wirtschaftliche Globalisierung Bürger aus unterschiedlichen Ländern zusammengebracht haben. Die Welt sei geschrumpft, und wir müssten bei allem, was wir tun, immer auch die globalen Konsequenzen berücksichtigen. Außerdem haben wir alle mehrere, überlappendende Identitäten, sagen sie. Weltbürgerschaft verdränge nicht zwangsläufig unsere Verantwortung zuhause.

Alles schön und gut. Aber was machen Weltbürger nun eigentlich? Echte Bürgerschaft heißt, sich mit anderen Bürgern in einer politischen Gemeinschaft auszutauschen und zu beraten. Es heißt, Entscheidungsträger zur Verantwortung zu ziehen und an politischen Verfahren teilzunehmen, um Politik mitzugestalten. Bei diesem Vorgang werden meine Ideen über wünschenswerte Ziele und Mittel mit denen meiner Mitbürger konfrontiert und getestet.

Weltbürger haben keine ähnlichen Rechte und Pflichten. Niemand ist ihnen gegenüber verantwortlich und sie selbst sind niemandem Rechenschaft schuldig. Im besten Fall bilden sie Gemeinschaften mit Gleichgesinnten aus anderen Ländern. Ihre Gegenüber sind nicht die anderen Bürger weltweit, sondern die selbsternannten Weltbürger in anderen Ländern.

Die innerstaatliche Perspektive ist sinnvoll

Natürlich haben Weltbürger Zugang zu ihrem politischen System zuhause, um ihre Ideen durchzubringen. Aber Politiker werden  gewählt, um die Interessen der Leute zu vertreten, die sie ins Amt gebracht haben. Nationale Regierungen sollen nationale Interessen vertreten, und das zu Recht. Das schließt nicht aus, dass Wähler im wohlverstandenen Eigeninteresse die Konsequenzen nationaler für andere berücksichtigen.

Aber was passiert, wenn das Wohlergehen der Einheimischen mit dem von Ausländern in Konflikt gerät – was ja häufig vorkommt? Haben die kosmopolitischen Eliten derzeit vielleicht deshalb einen so schlechten Ruf, weil sie in solchen Situationen ihre Landsleute missachten?
Weltbürger sorgen sich, dass globale öffentliche Güter Schaden nehmen, wenn Regierungen nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Diese Sorge ist berechtigt, wenn es wirklich um Themen geht, die die Allgemeinheit betreffen, wie Klimawandel oder Pandemien.

Aber in den meisten wirtschaftspolitischen Fragen – Handelspolitik, Finanzmarktstabilität oder der Steuer- und Geldpolitik – ist aus globaler Perspektive sinnvoll, was auch aus innerstaatlicher Perspektive sinnvoll ist. Die Wirtschaftswissenschaften lehren, dass Staaten offene Wirtschaftsgrenzen und eine kluge wirtschafts- und finanzpolitische Regulierung haben und eine Politik der Vollbeschäftigung betreiben sollten –  und zwar nicht, weil das gut für andere Länder ist, sondern weil es die heimische Wirtschaft ankurbelt.

Nicht in einer Wunschwelt leben

Natürlich passieren politische Fehler wie Protektionismus. Aber diese spiegeln eine schlechte nationale Regierungsführung wider und nicht etwa, dass es zu wenig kosmopolitisches Engagement gibt. Eine falsche Politik ist der Unfähigkeit der politischen Eliten geschuldet, die heimischen Wähler von den Vorteilen der Alternative zu überzeugen. Oder weil sie nicht bereit sind, ihre Politik so zu ändern, dass tatsächlich jeder davon profitiert.

Sich in solchen Situationen – beispielsweise beim Drängen auf Handelsabkommen – hinter dem Kosmopolitismus zu verstecken, ist ein schlechter Ersatz, um die dahinter stehenden politischen Kämpfe zu gewinnen. Und es entwertet das kosmopolitische Engagement für die Fälle, wenn wir es wirklich brauchen, etwa im Kampf gegen den globalen Klimawandel.

Autor

Dani Rodrik

ist Professor für internationale politische Ökonomie an der Harvard-Universität. Er ist Autor des Buches „Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft“.
Nur wenige haben die innere Spannung zwischen unseren verschiedenen Identitäten – lokal, national und global – so aufschlussreich auf den Punkt gebracht wie der Philosoph Kwame Anthony Appiah. In einer Antwort auf Theresa Mays Äußerung schrieb er, in diesem Zeitalter „der planetarischen Herausforderungen und der Verflechtungen zwischen den Ländern war ein Bewusstsein für ein gemeinsames menschliches Schicksals noch niemals notwendiger“. Dem lässt sich schwer widersprechen.

Dennoch ähneln Weltbürger oft dem Charakter aus Fjodor Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“, der entdeckt, je mehr er die Menschheit im Allgemeinen liebt, desto weniger liebt er den einzelnen Menschen. Weltbürger müssen aufpassen, dass ihre hochtrabenden Ziele nicht als Entschuldigung dafür dienen, dass sie sich vor der Verantwortung gegenüber ihren Landsleuten drücken.

Wir müssen in der Welt leben, die wir haben, mit all ihren politischen Spaltungen – und nicht in einer Wunschwelt. Der beste Weg, globalen Interessen zu dienen, besteht darin, unserer Verantwortung innerhalb der maßgeblichen politischen Institutionen gerecht zu werden – und das sind die Institutionen, die es gibt.

© Project Syndicate. Aus dem Englischen von Johanna Greuter

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erschienen in Ausgabe 6 / 2017: G20: Deutschland übernimmt
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