Nun ist also doch nicht zusammengewachsen, was offensichtlich auch nie zusammengehört hat. Jamaika ist geplatzt. Wie die nächste Bundesregierung aussehen wird, ist derzeit nicht absehbar.
Rückblende auf 1998: Was herrschte damals für eine Aufbruchsstimmung im linksliberal-grünen Milieu. Nach 16 Jahren Helmut Kohl war die Zeit reif für eine neue Politik, für ein neues gesellschaftliches Projekt. Es war Zeit für Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Joschka Fischer, denen man sofort abnahm, dass sie etwas verändern wollten – auch wenn dann vieles anders gekommen ist als geplant.
Dieser Geist hat bei Jamaika von Anfang an gefehlt. Die geplante Koalition war immer nur das kleinere Übel verglichen mit Neuwahlen oder einer Minderheitsregierung. Einige Kommentatoren haben während der Sondierung argumentiert, die Zeit der großen politischen Projekte, die sich dann in entsprechenden Regierungen niederschlagen, sei vorbei. Dazu hätten sich alte gesellschaftliche Milieus und politische Lager zu sehr verflüssigt und ineinander verschoben. Heute sei Pragmatismus gefragt, nicht Ideologie. Mag sein. Aber eine Idee, was sie mit der ihr anvertrauten Macht eigentlich anfangen will, sollte eine Regierung schon haben. Und eine solche Idee war bei den Jamaika-Verhandlern nie erkennbar.
Die Revolutionäre von heute stehen rechts außen
Ein neues „politisches Projekt“, der Wille, es umzusetzen, und fähiges Personal sind angesichts drängender Probleme heute notwendiger denn je. Aber gerade bei entscheidenden Fragen wie Klimaschutz, Flüchtlingspolitik und der Zukunft Europas waren CDU/CSU, FDP und Grüne besonders weit auseinander. Nötig wäre eine Bundesregierung mit Kreativität und Leidenschaft, um von Berlin und Brüssel aus zu einer gerechteren und friedlicheren Welt beizutragen.
Doch Kreativität und Leidenschaft findet sich heute vor allem bei den neuen Rechten. Die populistischen Rattenfänger in aller Welt haben ihr eigenes Projekt, das sie vorantreiben und als Lösung für alle Probleme verkaufen: weniger internationale Zusammenarbeit, mehr Nation, weniger Ausländer, mehr Abschottung. Die Revolutionäre von heute stehen nicht mehr links und träumen von einer besseren Welt. Sie stehen rechts außen und arbeiten an ihrer eigenen Version einer „großen Transformation“, die mit Nachhaltigkeit, Frieden und Gerechtigkeit nichts zu tun hat.
Auch die Entwicklungspolitik hat dem derzeit wenig entgegenzusetzen. Sie behauptet zwar, sie habe mit der Agenda 2030 den erforderlichen Plan parat, den sie bei jeder Gelegenheit wie eine Monstranz vor sich herträgt: Kein Politik- oder Diskussionspapier mehr, egal ob von staatlichen oder nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen, in dem nicht spätestens im zweiten Absatz auf die UN-Nachhaltigkeitsziele verwiesen wird. Aber die Agenda 2030 taugt nicht als motivierender Impuls für politisches Handeln. Dazu ist sie zu abstrakt und zu wenig fokussiert.
Die Agenda 2030 taugt nicht als motivierender Impuls
Die Aussichten sind derzeit denkbar schlecht für die Art Zusammenarbeit, die nötig wäre, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Und die Agenda 2030 kann es nicht leisten, diese Aussichten zu verbessern. Bislang hat sie vor allem neue Jobs für Sozialwissenschaftler und Politologen hervorgebracht, die Daten auswerten, Statistiken erstellen und Studien vorlegen, was noch getan werden muss, um die Ziele zu erreichen. Auch der Entwicklungspolitik mangelt es an Kreativität und Leidenschaft.
Noch einmal Rückblende auf 1998: Deutschlands letzte politisch denkende Entwicklungsministerin war Heidemarie Wieczorek-Zeul. Die SPD-Frau hatte eine Idee davon, wie sie ihr Ressort nutzen könnte, um politische Strukturen zu verändern. Sie verstand Entwicklungspolitik als Friedenspolitik und sorgte deshalb dafür, dass sie einen Sitz im Bundessicherheitsrat erhielt. Sie wollte auf globale Rahmenbedingungen für Entwicklung einwirken und schuf deshalb eine dafür zuständige Abteilung. Und sie vernetzte sich mit gleichgesinnten Amtskolleginnen in Europa in einer informellen Arbeitsgruppe, um gemeinsam Dinge in Bewegung zu setzen. Seitdem standen an der Spitze des Entwicklungsministeriums ein Polithallodri, der den Posten als Zwischenstation auf dem Karriereweg in die Rüstungsindustrie genutzt hat, und ein ehrenwerter CSU-Mann, der die Entwicklungspolitik vor allem als Überdruckventil für seine persönliche Empörung über die ungerechte Welt versteht.
Wer auch immer die nächste Entwicklungsministerin wird, wie auch immer die nächste Bundesregierung aussieht: Ihre wichtigste Aufgabe wird sein, gemeinsam mit Frankreich die Europäische Union neu zu erfinden. Für eine friedlichere und gerechtere Welt wird ein nach innen und außen handlungsfähiges Europa gebraucht. Auch wenn man sich das im Moment nicht so richtig vorstellen kann.
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