Jedes Land kann seine Armen finden

Sozialhilfe
Viele Entwicklungs­programme und Sozial­leistungen sollen gezielt den Ärmsten helfen. Dazu muss man wissen, wer die sind. Kambodscha macht vor, wie man das fair feststellen kann.

Wie erreicht man mit Hilfen die Ärmsten? Damit das gelingt, wird oft ermittelt, welche Teile eines Landes besonders arm sind. Für Bangladesch zum Beispiel zeigt der zweite Armutsatlas für 2010 den Armutsanteil und die Veränderungen der letzten Jahre für jeden Distrikt des Landes auf. Der verantwortliche Manager der Weltbank, die den Atlas mitfinanziert hat, verweist stolz auf die Möglichkeiten, die das Werk für die Landesentwicklung bietet. Tatsächlich lässt sich damit etwa nachweisen, wie Infrastrukturentwicklung wirkt: Nachdem über den Padma-Fluss eine Brücke gebaut worden war, gingen laut dem Atlas die Armutszahlen in den beiden anliegenden Distrikten geradezu dramatisch zurück. Ein Straßenausbau an anderer Stelle hatte einen ähnlichen Effekt.

Allerdings ist den meisten Regierungen bekannt, welche Teile ihres Landes die ärmsten sind. Auch die Gebergemeinschaft kennt die Regionen, in denen der Anteil an Armen besonders hoch ist. Jeder Beteiligte weiß, dass in Kenia die ärmsten Distrikte im Nordosten liegen und in Laos die Menschen vor allem in den Bergregionen im Norden wie auch im Süden des Landes besonders arm sind. Das genügt aber nicht, um staatliche Maßnahmen oder Entwicklungsprojekte gezielt auf die besonders Bedürftigen richten zu können. Es gibt auch in armen Regionen weniger arme und sogar wohlhabende Dörfer. Selbst wenn 50 oder gar 70 Prozent der Menschen in einem Distrikt ex­trem arm sind, garantiert das keineswegs, dass hier armutsorientierte Maßnahmen die „richtigen“ Haushalte und Personen erreichen.

Das aber wird bis heute überall unterstellt, wo Entwicklungsorganisationen „geografisches Targeting“ betreiben. Dies bedeutet, dass sie für ihre Projekte Gebiete mit hohen Armutszahlen aussuchen. Sie nehmen dann an, dass die Armen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung profitieren werden, wenn zum Beispiel die Trinkwasserversorgung verbessert oder Kleinbewässerung eingeführt wird. Das Projekt wird als armutsrelevant eingestuft – auch wenn möglicherweise in der Praxis nicht ein einziger armer Haushalt erreicht wird.

Denn extreme Armut ist dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen kaum in der Lage sind, Eigenleistungen zu erbringen, schon gar nicht in Form von Bargeld. Wenn Entwicklungsprojekte einen kleinen Eigenbeitrag voraussetzen, werden sich also als erstes die Dörfer melden, denen das leichtfällt. Die Dörfer mit extrem armer Bevölkerung werden dagegen das nötige Geld eher nicht zusammenbekommen, schon gar nicht schnell. Ein Beispiel ist ein Vorhaben zur Kleinbewässerung in Ostafrika, das da­rauf setzte, dass die Bauern zügig Anträge stellten und einen erheblichen Eigenbeitrag leisteten. Nur wer über einiges Bargeld verfügte oder wenigstens einen Bankkredit erhalten konnte, war in der Lage mitzumachen. Auf diese Weise kam nicht ein einziger armer Haushalt am Ende zu Bewässerungsanlagen.

Es ist schwierig, Unterstützung zielgerecht an die richtige Person zu bringen, wenn man die (extrem) Armen nicht im Einzelnen kennt. Und noch schwieriger, ja unmöglich ist es dann, soziale Sicherungsleistungen den richtigen Haushalten zukommen zu lassen. Das geografische Targeting mag für Infrastrukturprojekte wie in Bangladesch angemessen sein – für Entwicklungsprojekte und Sozial­transfers braucht man ein anderes System, das es erlaubt, die Armen gezielt aus der Masse der Bevölkerung herauszufinden.

Weltweit gibt es Dutzende solcher Identifikationssysteme. Eines wird in Brasilien schon rund 30 Jahre lang angewendet und begleitet seit 2003 das Familienhilfsprogramm „Bolsa Familia“. Hier werden mit Hilfe von Haushaltsfragebögen arme Haushalte identifiziert. Dabei steht weniger das Einkommen im Mittelpunkt, das sowieso kaum jemand ehrlich angeben würde, sondern zum Beispiel wer welche Arbeit hat oder ob der Haushalt von alleinerziehenden Frauen geführt wird.

In der Regel tun sich viele Länder – und nicht nur die ärmsten – jedoch schwer damit, Arme so zu identifizieren, dass es gerecht ist und vor allem auch Veränderungen erfasst werden. In den ärmsten Ländern kommt hinzu, dass statistische Daten oft mangelhaft sind, weil Haushaltsbefragungen teuer sind und selten umfassend durchgeführt werden. Im Rahmen großer Sozialprogramme haben allerdings Pakistan und die Philippinen mit großem Aufwand für jeweils deutlich über 100 Millionen US-Dollar Erhebungen durchgeführt, die in Pakistan rund 90 Prozent der Bevölkerung erfasst haben dürften, auf den Philippinen deutlich weniger. Zumindest hier muss das Ergebnis des darauf beruhenden Targeting – also gezielt Arme in den Blick zu nehmen – sehr gut gewesen sein. Denn in den letzten fünf Jahren hat auf den Philippinen die staatliche Förderung des Schulbesuchs für Kinder aus extrem armen Familien die Einschulungsrate von rund 92 auf fast 98 Prozent ansteigen lassen.

Solche Erhebungen haben aber einen Haken: Der Aufwand und die Kosten sind so hoch, dass sie nur alle sechs bis acht Jahre oder noch seltener durchgeführt werden und auch nicht alle Haushalte erfassen. Während dieser Zeit kann sich die Armutssituation grundlegend ändern, vor allem dort, wo ein großer Teil der Bevölkerung nahe an der Armutsgrenze lebt – viele können nach einer Erhebung in Armut geraten. Hinzu kommt ein Problem, das selbst in Deutschland regelmäßig zutage tritt: der Sozialneid. Wenn ein Identifikationssystem nicht absolut transparent ist, so dass die etwas weniger Armen genau erkennen können, wie es um Familien bestellt ist, die noch ärmer sind als sie selbst, dann finden Sozialleistungen auf Basis der eingesetzten Targeting-Systeme eher geringe Akzeptanz.

Ein Weg, diese Probleme zu lösen, ist die partizipative Erfassung der Armen. Ein Beispiel ist das System „ID Poor“, das das südostasiatische Kambodscha vor nunmehr rund zehn Jahren eingeführt hat: Es erfasst die Armen regelmäßig, bezieht dabei die Betroffenen ein und ist zugleich transparent. Der Anlass für die Erprobung und Einführung war, dass Kambodscha einen Spezialfonds für medizinische Leistungen für (extrem) Arme einführen wollte; da stellte sich die Frage, wie die Armen identifiziert werden könnten. Das System musste möglichst preisgünstig sowie einfach zu handhaben sein, um die lokalen, regionalen und nationalen Behörden nicht zu überlasten.

Entsprechend führte man zunächst nur in einem Drittel des Landes und auch nur in den Landgemeinden das folgende Verfahren ein: In jedem Dorf wurde ein Komitee gegründet, das die Identifizierung der Armen steuern sollte. Unter der Federführung der Provinzbüros des Planungsministeriums wurden Teams auf Gemeindeebene für Haushaltsbefragungen geschult. Fragebögen sollten helfen, einerseits Einkommen und Besitz von Familien in Zahlen zu erfassen und andererseits die Situation eines Haushaltes qualitativ zu beschreiben – etwa mit Indikatoren wie Art des Hauses, Zahl der arbeitsfähigen Haushaltsmitglieder, Gesundheitszustand, Behinderte und/oder Alte sowie abhängige Kinder in den Familien.

Auf der Basis der Haushaltsbefragung, deren Ergebnisse für jedes Dorf auf einer Punkteskala festgehalten wurden, erstellten Dorfkomitees eine Liste der Armen. Die Listen wurden öffentlich ausgehängt, so dass nicht gelistete Arme sich melden oder Nachbarn und Bekannte arme Personen oder Familien angeben konnten, die aus irgendwelchen Gründen nicht erfasst worden waren. Die Komitees ergänzten gegebenenfalls im Rahmen der Einzelfallprüfung die erste Liste. Je nach den Punkten erhielten die Familien auf der endgültigen Liste dann ID-Poor-Karten, die zu Leistungen aus dem Spezialfonds für Gesundheitsdienste berechtigen und inzwischen auch für andere Unterstützungsleistungen genutzt werden können.

Die ethischen Aspekte der öffentlichen „Vorführung“ einzelner Familien wurden kontrovers diskutiert. Bei Befragungen dazu haben die Betroffenen selbst aber nur selten Bedenken geäußert, so dass der Nutzen der Transparenz diese Bedenken überwog. In jedem Fall wusste die Dorfbevölkerung, warum eine Familie auf die Liste gekommen war und dass die Haushalte mit ID-Poor-Karte ärmer waren als sie selbst.

Im zweiten Jahr des ID-Poor-Prozesses wurde dann das zweite Drittel des Landes, im dritten Jahr das letzte Drittel erfasst; damit sind zumindest auf dem Lande alle Armen auf diese Weise identifiziert. 2016 ist die dritte Runde von ID Poor durchgeführt worden und seit November 2016 werden auch die Städte berücksichtigt, erneut jeweils zu einem Drittel pro Jahr. Der Prozess auf dem Land wird ohne Unterbrechung fortgeführt, wobei die Methode im Laufe der neun Jahre ständig verbessert wurde.

Autor

Frank Bliss

ist Professor für Ethnologie (Schwerpunkt Entwicklungsethnologie) an der Universität Hamburg und Senior Research Fellow am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Der Artikel beruht auf einer Studie für das INEF.
Wie verlässlich ist sie? Das hat ein Forschungsteam des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen unter meiner Leitung 2017 untersucht. Es stand im Rahmen eines vom Bundesentwicklungsministerium (BMZ) geförderten Forschungsvorhabens zur Frage, wie die staatliche Entwicklungszusammenarbeit extrem arme und ernährungsunsichere Bevölkerungsgruppen besser erreichen kann. In Kambodscha wollten wir in Gesprächen mit Beteiligten – darunter mit 32 Fokusgruppen in fünf Provinzen – vor allem herausfinden, in welchem Umfang ID Poor Menschen falsch als arm oder als nicht arm einstuft.

Die Einbeziehung von Personen, die eigentlich keine Unterstützung nötig haben, kommt demnach relativ selten vor. Aber ID Poor erfasst nicht alle armen Haushalte. Das liegt an der Migration: Einerseits gehen im Land selbst Menschen während der Trockenzeit vorübergehend zur Arbeitsaufnahme in die Städte, andererseits finden Migranten saisonal oder mehrere Jahre lang Arbeit im Ausland, vor allem in Thailand. Familien, die zum Zeitpunkt der ID-Poor-Erhebung abwesend sind, werden nicht erfasst.

Hinzu kommt: Die Armutsquote in Kambodscha ist zwar in den vergangenen 15 Jahren drastisch gesunken, aber eine sehr große Zahl von Menschen lebt nur knapp oberhalb der Armutsgrenze und viele von ihnen fallen immer wieder zumindest zeitweise da­runter zurück. Eine Lösung ist das sogenannte Post-ID, das derzeit in den Provinzhospitälern durchgeführt wird: Im Rahmen einer Einzelfallprüfung können Patienten, die in ein solches Krankenhaus kommen und keine ID-Poor-Karte haben, eine vergleichbare Karte erhalten, die bisher nur für die kostenlose Gesundheitsbehandlung qualifiziert.

Im Planungsministerium wird zurzeit überlegt, das Post-ID-System den Kommunen zu übertragen. Sie könnten dann zwischen zwei landesweiten ID-Poor-Erhebungen nicht mehr nur Ersatzkarten für die Gesundheitsversorgung, sondern „richtige“ ID-Poor-Karten ausstellen. So können nicht erfasste ex­trem arme Haushalte beantragen, jederzeit nachträglich berücksichtigt zu werden. Wenn das umgesetzt wird, dann verfügt Kambodscha – derzeit noch ein Land mit niedrigem Einkommen – über ein besseres und transparenteres Targeting-System als viele Länder mit mittlerem Einkommen.

Das Modell ist relativ preiswert und weitgehend von Mitarbeitenden der Gemeinden umsetzbar. Es ließe sich relativ leicht auf andere Länder übertragen. Das deutsche und internationale Interesse an ID Poor könnte in nächster Zeit dazu führen, dass es – an den jeweiligen Kontext angepasst – sogar in extrem armen Staaten eingeführt wird.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2018: Diaspora: Zu Hause in zwei Ländern
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