Fette Beute für die Bürger­meister

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Rohstoffabkommen mit Peru
Sandra Weiss

Protest aus dem Hinterland: In Lima wehren sich Einwohner aus Morococha dagegen, dass ein chinesischer Bergbaukonzern den Ort ein paar Kilometer umsiedelt – und die neuen Häuser da baufällig sind.

Korruption in Peru
In Peru sollte die Dezentralisierung die Politik näher zu den Bürgern bringen. Gelungen ist das nur teilweise.

Von Pichari nach Sivia ist es nur ein Katzensprung. Keine vier Kilometer trennen die Orte am tropischen Osthang der Anden Perus. Die Bootsfahrt über den Apurímac-Fluss dauert fünf Minuten. Und doch sind es zwei Welten. In Sivia scheint die Zeit stehengeblieben. Es gibt nur Schotterwege und eine Handvoll Krämerläden. Ab und zu sieht man ein paar Bauern, die sich zu Fuß in abgelatschten Sandalen auf den Weg zu ihren Fincas machen. In den Lebensmittelläden kann man den Einkauf gegen Kokablätter aufwiegen lassen, die wichtigste Handelsware der Region. Ein Teil des Kokaanbaus ist legal für traditionelle Nutzung wie Tees und für Acullico, das Kauen der Blätter. Der Großteil aber wird zu Kokapaste verarbeitet, dem Vorprodukt von Kokain, und ist illegal.

Auch Pichari lebt von der Kokapflanze, der hier sogar ein Denkmal gesetzt wurde. Aber hier gibt es Hotels, zwei Tankstellen und einen Radiosender. Die Straßen sind geteert, die Geschäfte voller Waren, das moderne Rathaus mit verspiegeltem Glas liegt an einem großen Platz, auf dem Liebespaare flirten und Kinder Radfahren lernen. Die Stadt versucht, ihre Einnahmequellen mit Tourismus und Kakaoanbau zu verbreitern.

Was die beiden Zwillingsstädte scheidet, ist die „Bergbausteuer“. Pichari gehört zur Region Cusco, wo Minenbetreiber und Energieunternehmen, die Gas fördern, per Gesetz die Hälfte ihrer Lizenzabgaben an Gemeinden und Regionen zahlen müssen. Sivia hingegen liegt in der Region Apurímac, eine der ärmsten Perus, die ohne diese Zusatzeinnahme auskommen muss. Die Kommunen trennt eine unsichtbare Grenze mit sichtbaren Folgen. Dass sie sich so unterschiedlich entwickeln konnten, ist eine Folge der 2002 begonnenen Dezentralisierung des Staates, die große Hoffnungen geweckt und viele enttäuscht hat.

Während Nachbarländer wie Brasilien und Ecuador schon nach der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht mit der Dezentralisierung begannen, blieb Peru so zentralistisch, wie es die Kolonialherren einst konzipiert hatten. Die Hauptstadt war der große Wasserkopf, von dem aus ein klimatisch, kulturell und wirtschaftlich sehr diverses Land regiert wurde. Wie selbstbezogen Limas Elite ist, schildert der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa in vielen seiner Bücher, unter anderem in „Tod in den Anden“: Dort tobt der blutige Bürgerkrieg, was in Lima aber erst Beachtung findet, als auch dort Bomben hochgehen.

Bankentürme und Slums ohne Infrastruktur

Anschaulich wird das schon nach einer dreiviertel Stunde Autofahrt an die Peripherie Limas, zum Beispiel in die durch Bürgerkriegsflüchtlinge in den 1990er Jahren rasch gewachsene Satelliten-Schlafstadt Chosica. Kaum lässt man die Strandpromenade am Pazifik, die Bankentürme von San Isidro und die prachtvollen Kolonialbauten des Zentrums hinter sich, landet man mitten in der Wüste, in hastig errichteten Slums, die sich die kahlen Berge hochziehen und kaum öffentliche Infrastruktur besitzen. 80.000 Menschen in Chosica haben keinen Zugang zu Trinkwasser, ihre Häuser sind nur über Trampelpfade oder steile Treppen zu erreichen, es gibt praktisch keine Parks und Sportplätze.

Die Dezentralisierung kam immer wieder aufs Tapet und wurde immer wieder verschoben, weil Dringenderes die politische Tagesordnung bestimmte und die Limeños – die Einwohner Limas – die Staatseinnahmen nicht mit den Provinzen teilen wollten. Erst der demokratische Neuanfang nach dem Sturz des autoritären und korrupten, aber auf paternalistische Weise sehr um die Provinz bemühten Diktators Alberto Fujimori Ende 2000 ermöglichte es seinen Nachfolgern, das Vorhaben endlich in Angriff zu nehmen (siehe Kasten). Günstig war der zur gleichen Zeit einsetzende Boom der Mineralienpreise, der genügend Geld in die Staatskassen spülte.

Mehr Kompetenzen und Geld für die Regionen

Im Jahr 2002 startete die Regierung in Lima eine umfassende Dezentralisierung Perus. Am Anfang stand eine Verfassungsreform, die den Regionen mehr Autonomie gewährte. Es folgten ein Gesetz ...

Doch die Hoffnung auf mehr Effizienz und Volksnähe bewahrheitete sich zunächst nicht. Es wurden konzeptionelle Fehler gemacht, etwa auf einen Länderfinanzausgleich verzichtet. Die Regionen blieben so stark abhängig von Transferzahlungen des Bundes (nur ein Fünftel der regionalen Haushalte stammt aus eigenen Einnahmen). Es wurde keine nationale Buchprüfung geschaffen, und die regionalen Rechnungshöfe wurden nach politischen Kriterien besetzt. Und der schwerfällige, zentralistische Beamtenapparat wehrte sich gegen die Beschneidung seiner Privilegien. Aber manches war einfach nur Pech. Die Dezentralisierung fiel zusammen mit dem Kollaps der Traditionsparteien in Peru, der mit dem Sturz Fujimoris im Jahr 2000 einsetzte. Die Parteienlandschaft zerfiel in ad hoc geschaffene Wählervereine, die glaubten, traditionelle Basisarbeit und die Ausbildung von Parteikadern seien überflüssig und könnten durch viel Geld im Wahlkampf ersetzt werden.

Die Folgen dieser Politikkrise sind landauf, landab sichtbar: pompöse Prachtbauten, mit denen sich lokale Politiker Denkmäler gesetzt oder ihren Bürgern scheinbar Träume von der großen Welt verwirklicht haben, ohne Gedanken daran zu verschwenden, ob ihre Vorhaben irgendeinen Sinn haben. Das reicht von überdimensionierten Sportstadien mit Kunstrasen in Andendörfern über kitschige Bronzedenkmäler und verspiegelte Rathauspaläste bis hin zu betonierten, baumlosen  Parks, die fast immer menschenleer sind. Viel Geld, wenig Struktur, null Wissen über gute Regierungsführung und kaum Kontrolle waren ein gefährlicher Cocktail, der sich in den Regionen zusammenbraute.

Als Lima auf die Korruption und Misswirtschaft in den Regionen reagierte, war es fast schon zu spät. Anlass waren die Regionalwahlen 2014, die die Alarmglocken schrillen ließen. Gegen 19 der 25 damals amtierenden Regionalpräsidenten und gegen 90 Prozent der damals amtierenden Bürgermeister liefen Ermittlungen wegen Korruption, Geldwäsche, Drogenhandel, Zuhälterei und Mord. Auf Druck der Zentralregierung sortierte die Wahlbehörde rasch Dutzende der zwielichtigen Kandidaten aus – darunter so schillernde Figuren wie die wegen Drogenhandels suspendierten „Narco-Abgeordneten“ Elsa Malpartida und Nelson Palomino oder den im Mai 2014 wegen Mordes festgenommenen Regionalpräsidenten von Ancash, César Álvarez. Trotzdem konnte dank juristischer Spiegelfechtereien und Einsprüchen fast die Hälfte der vorbelasteten Politiker bei den Wahlen 2014 antreten, darunter der umstrittene Bürgermeister von Chiclayo, Roberto Torres, gegen den 18 Prozesse liefen.

Der Regionalpräsident wurde von seiner Frau der Geldwäsche bezichtigt

Wiederwählen ließ sich auch der Exbürgermeister von Lima, Luis Castañeda; seine Suspendierung wegen eines gefälschten Doktortitels konnte er aufheben lassen. Seine von Korruptionsskandalen überschattete erste Amtszeit 2003 bis 2010 dürfte durch die zweite noch übertroffen werden. In La Libertad wurde César Acuña Regionalpräsident, der innerhalb weniger Jahre mit einem Fußballclub und Privatuniversitäten zum Multimillionär aufgestiegen war und von seiner eigenen Frau während des Wahlkampfes der Geldwäsche bezichtigt und dann von den Behörden des Stimmenkaufs überführt wurde.

Die Amazonasprovinz Madre de Dios, die Papst Franziskus Anfang des Jahres besucht hat, wird von Luis Otsuka regiert, einem Kopf der lokalen Goldgräber-Mafia. Die illegale Goldwäscherei hat in der Region 75.000 Hektar Regenwald vernichtet, Prostitution und Kriminalität in die Höhe schießen lassen und die Flüsse mit Quecksilber vergiftet. Aber sie hat auch Neureiche wie Otsuka geschaffen, die ihr Geld in die Politik investieren und sich und ihrer Lobby  damit langfristige Geschäftsinteressen sichern.

Diese Auswüchse haben Kritiker der Dezentralisierung auf den Plan gerufen. Einige von ihnen würden das Rad der Geschichte am liebsten zurückdrehen. „Die Dezentralisierung ist gescheitert, weil sie sich auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränkt und kein ganzheitliches, politisches Konzept hatte“, so der Politologe Fernando Tuesta. Trotz des Fortschritts, so ein Argument der Kritiker, kann bis heute keine einzige Stadt mit Lima konkurrieren. Die Hauptstadt mit ihren fast zehn Millionen Einwohnern und einem Wirtschaftsaufkommen von 89 Milliarden US-Dollar bleibt unangefochten der Dreh- und Angelpunkt des Andenlandes. Perus zweitgrößte Stadt, Arequipa, hat gerade einmal 800.000 Einwohner und nicht einmal ein Zehntel der Wirtschaftskraft. Tuesta kritisiert, die Bevölkerung habe den Prozess nicht verstanden, sei desinteressiert, den regionalen Miniparteien mangele es an Strukturen und plausiblen Programmen und sie würden zudem von niemandem kontrolliert, was regionale Caudillos hervorgebracht habe.

Als der heilige Berg abgetragen werden sollte, kam es zum Volksaufstand

So richtig das ist, so sind gerade diese Lokalfürsten doch manchmal ein wichtiges Gegengewicht zu den Interessen der Elite in Lima. So in der nördlichen Provinz Cajamarca, einer auf Milch- und Landwirtschaft spezialisierten Region. Dort liegt Yanacocha, eine der größten Goldminen Südamerikas. Die offene Mine im Besitz der US-Firma Newmont wird von den Bauern zunehmend als Bedrohung gesehen: Sie verschmutze Luft und Wasser und gefährde die Lebensgrundlage der Bevölkerung. „Oft haben die Bauern kritische Bürgermeister und Politiker gewählt, die sich dann aber von der Mine kaufen ließen“, erzählt Pablo Sánchez von der Menschenrechtsorganisation Grufides.

Bis Gregorio Santos 2010 zum Regionalpräsidenten gewählt wurde. Er stellte sich – unterstützt vom katholischen Pfarrer Marco Arana, der inzwischen Abgeordneter in Lima ist – auf die Seite der Bevölkerung. Als die Mine 2009 den für die Bevölkerung heiligen Quilish-Berg abtragen wollte, kam es zum Volksaufstand. Der damalige bergbaufreundliche Staatschef Alan García erklärte die Bauern zu unzurechnungsfähigen Hinterwäldlern und ließ sie als „Terroristen“ verfolgen, Santos landete wegen angeblicher Veruntreuung im Gefängnis. Zuvor hatte er versucht, ein aus öffentlichen Geldern finanziertes, unabhängiges Labor einzurichten, um stichhaltige Beweise über den Zustand der Umwelt zu sammeln. Das Ministerium für Bergbau in Lima, das für die Konzessionen zuständig ist, war davon wenig begeistert.

„Natürlich ist am Vorwurf der Ineffizienz und Korruption in den Regionen oft etwas dran“, sagt der Direktor des nordperuanischen Medienimperiums TV Sol, Ricardo Cruzado. „Aber da ist auch Neid und Rassismus dabei. Die Elite in Lima hat Schwierigkeiten damit, dass sie jetzt Macht an Mestizen abgeben muss.“ Der derzeitige Kandidat für den Posten des Regionalpräsidenten der nördlichen Region La Libertad, Alejandro Santa Maria, sagt, Korruption gebe es außerdem nicht nur in den Regionen, sondern sie habe „den kompletten Staatsapparat unterhöhlt“. Kürzlich räumte der Manager des Baukonzerns Odebrecht ein, Politiker und Präsidenten nahezu aller Parteien geschmiert zu haben. Sogar Staatspräsident Pedro Kucyznski droht ein Amtsenthebungsverfahren wegen Korruption im Zusammenhang mit der Vergabe von Konzessionen.

Die Bürokratie behindert sich selbst

In Regionen wie Ica, Huancavelica und San Martín hätten fähige Regionalpräsidenten gute Arbeit geleistet, ergänzt der Regierungsberater Manuel Bernales. „Eine Provinz wie San Martín, die keine Einnahmen aus dem Bergbau erhält, hat diesen Nachteil kompensiert, indem sie Treuhandfonds für bestimmte Infrastrukturprojekte eingerichtet hat, die von Organisationen wie der Weltbank gespeist werden.“ Die Dezentralisierung stand zudem einige Jahre lang im Fokus der bilateralen Entwicklungshilfe; beteiligt waren auf Seiten der Geber unter anderem die US-amerikanische Agentur USAID und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Doch diese Hilfe sei Moden unterworfen, kritisiert Bernales. „Zuerst ging es um die Schaffung von Institutionen, dann konzentrierte sich alles auf den Gender- und Indigena-Aspekt.“ Das war Bernales zufolge wenig hilfreich, habe den Prozess fragmentiert und einen Dschungel unklarer Zuständigkeiten geschaffen, in dem sich die Bürokratie selbst behindere. Bis heute gibt es beispielsweise keine verbindlichen Raumordnungspläne, und in Regionen wie Madre de Dios überschneiden sich oft Schutzgebiete für die Indigenen sowie Naturparks mit Konzessionen für den Bergbau und diese wiederum mit Infrastrukturprojekten oder der Freigabe für Landwirtschaft, weil für jede Genehmigung eine andere Stelle zuständig ist.

Otoniel Velasco, zwischen 2002 und 2005 Chefberater der für die Dezentralisierung zuständigen Regierungsstelle in Lima, sieht trotz der Stolpersteine durchaus Fortschritte. „Lima hat an wirtschaftlicher Bedeutung verloren. Zu Beginn des Prozesses erwirtschaftete die Hauptstadt 48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, jetzt sind es nur noch 44 Prozent.“  500 Jahre Zentralismus seien nicht in einem Jahrzehnt auszumerzen. Auch Alejandro Santa Maria sieht Licht am Ende des Tunnels: „Früher demonstrierte jeder, der sich über etwas ärgerte, in Lima. Inzwischen finden die Demos vor dem Rathaus oder der Regionalverwaltung statt.“

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erschienen in Ausgabe 4 / 2018: Globale Politik von unten
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