„Erinnern um der Versöhnung willen“

Israelische Friedensinitiative setzt sich für eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge ein

Gespräch mit Umar Ighbarieh

1948 war für Israelis und Palästinenser ein schicksalhaftes Jahr. Was die einen als Gründung eines eigenen Staates feiern, ist für die anderen der Beginn von Flucht und Vertreibung. Die israelische Friedensinitiative Zochrot („Erinnern“), in der Juden und Araber seit 2002 zusammenarbeiten, will die jüdische Bevölkerung an die Schattenseite von 1948 erinnern – und stößt damit häufig auf taube Ohren, wie Umar Ighbarieh berichtet.

Welches Ziel verfolgt die israelische Friedensinitiative Zochrot mit ihrer Arbeit?

Wir wollen, dass in der jüdischen Öffentlichkeit die Nakba ein Thema wird. Nakba ist Arabisch und bedeutet Katastrophe. Es steht für die Zerstörung und Entvölkerung von Palästina während des Kriegs 1948 und der Gründung des Staates Israel. Wir wollen die jüdische Bevölkerung informieren, damit sie für die Folgen der Nakba Verantwortung übernimmt. Während der ersten zwei Jahre nach 1948 wurden etwa 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Mehr als 500 palästinensische Dörfer und Städte wurden zerstört. Die Flüchtlinge leben bis heute mit ihren Kindern und Enkeln in Lagern im Libanon, in Syrien, Jordanien, in der Westbank und im Gaza-Streifen. Sie haben noch immer den Flüchtlingsstatus.

Was bedeutet das für ihr Leben?

Am schlechtesten geht es den Flüchtlingen im Libanon. Sie haben keine Rechte, dürfen keine libanesischen Schulen besuchen, in vielen Berufen nicht arbeiten, und keine Versicherung nimmt sie auf. Aber auch in Israel gibt es 250.000 Inlandsflüchtlinge. Sie gelten offiziell als israelische Bürger, wurden aber per Gesetz als “abwesend” deklariert, was ihnen das Recht auf ihre Ländereien, ihre Häuser und ihren Besitz nimmt.

Was weiß die jüdische Bevölkerung Israels über die Nakba?

Die meisten Israelis wissen nichts darüber. In den Schulen, an den Universitäten und in den Medien ist die Geschichte des palästinensischen Volks kein Thema. Wir von Zochrot glauben aber, dass eine Lösung des Konflikts nur auf der Anerkennung dessen basieren kann, was Israel den Palästinensern angetan hat. Und auf dem Recht für alle Palästinenser, in ihr Land zurückzukehren.

Wissen denn die Palästinenser in Israel mehr darüber? Schließlich sind auch die arabischen Schulen in Israel Teil des israelischen Bildungssystems und haben sich an die offiziellen Lehrpläne zu halten.

Natürlich wissen wir mehr als die Israelis. Das Leben in der Unterdrückung ist die beste Schule. Wegen der israelischen Besatzungspolitik und der Gewalt gegen die Palästinenser haben wir zu einer starken Identität gefunden und ein Bewusstsein für unsere Geschichte entwickelt. Vor 30 oder 40 Jahren gab es das noch nicht. Ich kann mich erinnern, dass wir früher in der arabischen Schule auch den israelischen Unabhängigkeitstag gefeiert haben. Ich durfte einmal sogar die israelische Flagge hissen und war sehr stolz darauf. Wir wussten nichts über die Nakba. Mein Vater war 1948 acht Jahre alt. Er hat nie mit mir über damals geredet. Auch mein Großvater nicht. Sie haben ihren Ärger heruntergeschluckt und geschwiegen.

Wie erklären Sie das?

Ich denke, dass es dafür zwei Gründe gibt. Zum einen hatten sie Angst vor der Reaktion der Juden. Dann aber haben sie wohl auch geschwiegen, weil sie sich schuldig gefühlt haben. Sie haben sich für ihre eigene Schwäche geschämt.

Wie arbeitet Zochrot?

Wir organisieren Besuche in zerstörte palästinensische Dörfer, stellen dort Informations- und Gedenkschilder auf. Wir veröffentlichen Broschüren über die Dörfer und haben Schulmaterial auf Hebräisch erarbeitet. Wir nehmen die Zeugnisse von palästinensischen Überlebenden auf. Auf unsere Homepage, die übrigens die erste und ausführlichste hebräische Online-Quelle über die Nakba ist, haben wir Karten, Originalvideos, Fotos und vieles mehr gestellt.

Erreicht Zochrot damit die Menschen in Israel?

Seit der Gründung von Zochrot 2002 konnten wir stetig mehr Menschen erreichen. Allerdings reden wir hier über einige hundert Menschen – ein Tropfen auf den heißen Stein. Die große Mehrheit akzeptiert nicht, was wir tun. Sie wollen nichts über das Schicksal der Palästinenser hören. Die jüdischen Mitarbeiter von Zochrot werden oft aus den eigenen Reihen als Verräter beschimpft.

Und Sie als Araber? Was denken Palästinenser über die Arbeit von Zochrot?

Die meisten schätzen sie und wissen, dass es wichtig ist, die Erinnerungen zu bewahren. Aber ich habe auch einige negative Rückmeldungen bekommen. Zum Beispiel habe ich eine E-Mail aus einem Golfstaat erhalten, in der ich beschuldigt wurde, mit dem Feind zusammenzuarbeiten.

Zochrot tritt für ein Rückkehrrecht der Palästinenser ein. Wohin sollten denn die gehen, die jetzt auf deren Land leben?

Ach, die Raumfrage ist doch eine schwache Entschuldigung. Israel ist offen für alle Juden in der Welt. Warum sollte das nicht auch für die Palästinenser gelten? Es ist eine ideologische Frage. Der Zionismus lässt keinen Raum für andere Ideen. Im Übrigen sind viele der zerstörten palästinensischen Dörfer nicht neu besiedelt worden.

Viele palästinensische Flüchtlinge leben in den Nachbarländern. Wäre es für den Friedensprozess nicht besser, wenn die Palästinenser ihre Forderung nach Rückkehr aufgäben und Jordanien, Libanon und Syrien ihnen die vollen Bürgerrechte zugeständen?

Wer Frieden will, sollte das Unrecht ausgleichen und nicht die Ausgebeuteten zwingen, das Unrecht zu akzeptieren. Es ist längst Zeit, dass Libanon, Jordanien und Syrien den Flüchtlingen die vollen Bürgerrechte zugestehen. Dann könnten sie dort ein normales Leben führen, bis sie in ihr Land zurückgehen können. Das Recht auf Rückkehr sollte aber nicht dagegen ausgespielt werden.

Wie sehen Sie die Zukunft Palästinas?

Es sollte einen Staat für alle Bürger geben, egal welcher Religion oder Hautfarbe. Nehmen Sie das Beispiel Südafrika: Nach der Apartheid übernahmen die Schwarzen dort die Macht. Sie riefen nicht zur Vergeltung auf. Beide Seiten leben heute in einem freien, demokratischen Land.

Die aktuelle Situation gibt aber wenig Anlass zur Hoffnung.

Das stimmt. Die Entscheidungsträger auf beiden Seiten sind weit entfernt von diesen Ideen. Israel wird vorerst keiner Lösung zustimmen, die den Palästinensern einen unabhängigen Staat garantiert. Die Palästinenser dagegen werden nicht akzeptieren, von Israel kontrolliert zu werden, und sie werden nicht auf das Rückkehrrecht für die Flüchtlinge verzichten. Doch Israel wird einem Rückkehrrecht nicht zustimmen.

Und eine Zweistaatenlösung?

Das ist keine Option – wegen Jerusalem, dem Rückkehrrecht und den Siedlungen. Ich glaube, dass wir letzten Endes keine andere Wahl als einen gemeinsamen Staat haben. Der kann ohne Krieg und Blut etabliert werden, wie in Südafrika. Die israelischen Juden müssen allerdings das Unrecht anerkennen, das sie den Palästinensern angetan haben. Dann kann es endlich auch Versöhnung geben.

Das Gespräch führte Katja Dorothea Buck

Umar Ighbarieh ist israelischer Staatsangehöriger arabischer Abstammung und arbeitet als Bildungsreferent in der Begegnungsstätte School of Peace in Neve Shalom, einer jüdisch-arabischen Dorfgemeinschaft.

 

 

 

erschienen in Ausgabe 3 / 2009: Südafrika: Neue Freiheit, alte Armut
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