„Die Hamas ist in der Gesellschaft verwurzelt“

Männer und ein Junge mit Töpfen stehen Schlange.
Belal Abu Amer apaimage/SIPA/picture alliance
Im Gazastreifen vertriebene Palästinenser warten im Juli 2025 im Lager Nuseirat auf Essensrationen. Die UN warnen vor einer Hungersnot infolge des Krieges in Gaza.
Nahostkonflikt
Nach fast zwei Jahren Krieg in Gaza mit Zehntausenden Todesopfern ist kein Ende der Kämpfe in Sicht. Max Rodenbeck von der International Crisis Group erklärt im Interview mit Arshi Qureshi für das Onlineportal „PassBlue“, wie sich die Hamas immer wieder regeneriert und warum Israel sie nicht komplett vernichten kann. Wir bringen das Gespräch gekürzt in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung.

Max Rodenbeck ist Direktor Israel/Palästina bei der International Crisis Group.

Wie viele Hamas-Kämpfer sind noch in Gaza aktiv? Und wer führt sie derzeit an?
Niemand weiß das genau. Die einzigen verlässlichen Schätzungen stammen vom israelischen Militär. Nach den neuesten Zahlen, die ich gesehen habe, gibt es in Gaza etwa 20.000 bewaffnete Kämpfer, bei der Hamas oder auch bei anderen bewaffneten Gruppen. Israel schätzt außerdem, dass seit Kriegsbeginn eine ähnliche Anzahl – möglicherweise sogar bis zu 30.000 Kämpfer – getötet wurden.

Die Hamas-Miliz konnte sich also trotz Kriegs regenerieren?
So sieht es aus, sowohl ihr militärischer als auch ihr politischer Flügel. Die Hamas, deren Wurzeln in der Muslimbruderschaft liegen, ist eine große Organisation. Wir reden nicht nur über Kämpfer. Es geht auch um Lebensmittelhändler, Metzger, Klempner und Bauern – und um viele Regierungsangestellte in Gaza, wo die Hamas seit fast zwei Jahrzehnten regiert. Alles in allem stehen vermutlich um die 100.000 Menschen in Verbindung mit ihr; es ist schwer, eine klare Grenze zu ziehen.

Wer leitet derzeit die militärischen Operationen?
Israel hat mehrere hochrangige Kommandeure getötet, einen nach dem anderen. Jedes Mal, wenn ein Anführer getötet wird, tritt jemand anderes an seine Stelle. Viele der jetzigen Kommandeure sind der Öffentlichkeit unbekannt – zum einen, weil die Presse keinen Zugang zu Gaza hat, zum anderen, weil sie anonym bleiben möchten, um nicht ins Visier Israels zu geraten.  

Gibt es innerhalb der Hamas Machtkämpfe?
Es gab schon immer Spannungen – zwischen dem militärischen und dem politischen Flügel sowie zwischen den Hamas-Führern im Gazastreifen und denen im Exil in Ländern wie Katar und der Türkei. Aber die Organisation bleibt auffallend diszipliniert und achtet sehr darauf, Einheit zu demonstrieren. Selbst wenn es interne Meinungsverschiedenheiten gibt, vermeiden es die Hamas-Führer, diese öffentlich zu machen.

Es gibt kaum Anzeichen für Uneinigkeit?
Innerhalb der Hamas nicht. Aber wir sehen eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung im Gazastreifen. Es gibt aber in der Hamas welche, die einen Waffenstillstand um fast jeden Preis akzeptieren würden, und andere, die daran glauben, Geiseln als maximales Druckmittel in der Hand zu behalten. Diese Debatten gibt es, aber sie sind selten sichtbar.

Kann das militärische Ziel von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Hamas zu vernichten, überhaupt erreicht werden? 
Dieses Ziel ist problematisch – insbesondere weil die Hamas tief in der Gesellschaft des Gazastreifens verwurzelt ist. Wenn man sie also vernichtet, was genau vernichtet man dann? Eine politische Partei? Kämpfer? Das hat Israel nie ganz klar definiert. Gemessen an der Zahl der Getöteten scheint es eine möglichst weit gefasste Definition der Hamas zugrunde zu legen. Ich denke, Israel könnte unter Inkaufnahme großer Kosten – in erster Linie an palästinensischen Menschenleben, aber auch an israelischen Soldaten und Zeit – die Hamas vollständig eliminieren. Es wäre möglich, alle bewaffneten Männer zu beseitigen, aber ich glaube nicht, dass die Israelis bereit sind, so viele ihrer Soldaten zu opfern, wie dafür nötig wären. Also schwächen sie die Hamas durch Zermürbung und hoffen, dass sie sich ergibt.

Wie viele Mitglieder hat die Hamas, die keine Kämpfer sind? 
Da es sich nicht um eine Partei mit offenem Mitgliederverzeichnis handelt, kann man nicht einfach fragen: „Wie viele Mitglieder gibt es?“ Aber wenn man in Gaza unterwegs ist, hört man immer wieder: „Der da ist von der Hamas.“ Von den zwei Millionen Menschen in Gaza sind viele auf die eine oder andere Weise mit ihr verbunden. Daher ist das Zahlenspiel nicht wirklich aussagekräftig. Die Hamas ist tief in der Gesellschaft von Gaza verwurzelt. Die Zahl der Menschen, die zum Kern gehören, liegt vielleicht bei etwa 10.000. Realistisch ist, dass ungefähr jeder zwanzigste Einwohner Gazas in irgendeiner Weise mit der Hamas verbunden ist.

Wie sind der Iran und die Hamas miteinander verbunden?
Sie sind eine Art Partner, Waffenbrüder, aber es gibt keine Befehls- und Kontrollbeziehung. Das gab es nie. Der Iran hat der Hamas Geld geschickt. Er hat einige Hamas-Führer im Exil aufgenommen – wie wir wissen, wurde der hochrangige Hamas-Führer Ismail Haniyeh letztes Jahr in Teheran ermordet. Der Iran hat auch versucht, die Hamas mit Waffen zu versorgen, obwohl das schwierig ist. Die Hamas ist eine sunnitisch-muslimische Gruppe und der Iran eine schiitisch-muslimische Macht – ideologisch sind sie sich nicht einig. Sie teilen eine Abneigung gegen Israel, und das ist wichtig. Aber als die Hamas am 7. Oktober 2023 ihren Angriff auf Israel startete, wusste der Iran anscheinend nichts davon und war darüber nicht glücklich. Er war verärgert, zu diesem Zeitpunkt in eine solche Situation mit Israel hineingezogen zu werden.

Gibt es Beweise für die Unterstützung der Hamas durch den Iran? Und wie hängen die beiden Kriege – Israels Konfrontation mit der Hamas im Gazastreifen und die Eskalation mit dem Iran – strategisch zusammen? 
Die Israelis haben iranische Waffen abgefangen, die für Gaza bestimmt waren. Wir wissen, dass einige Hamas-Aktivisten im Iran ausgebildet wurden – sie haben gelernt, wie man Raketen baut. Es gab einen Austausch von Knowhow, und ein Teil des Geldes kam aus dem Iran. All das ist wahr. Aber die Vorstellung, dass die Hamas eine Art Stellvertreter des Iran ist oder im Namen des Iran handelt, trifft nicht zu. Die Hamas hat immer ihre eigenen Entscheidungen getroffen.

Die Hamas wird also nicht betroffen sein, wenn das iranische Regime zusammenbricht?
Das würde sich durchaus auf die Hamas auswirken. Es wäre aber ein Fehler anzunehmen, dass sie ohne den Iran zusammenbricht. Aber ehrlich gesagt ist der Krieg in Gaza so katastrophal, dass ohnehin nicht klar ist, was von der Hamas übrigbleiben wird.

Wie hat die Hamas trotz der täglichen schweren Bombardements in Gaza einen Großteil ihrer Kampfkraft bewahrt – und sogar Tausende neuer Kämpfer rekrutiert?
In gewisser Weise ist das nicht überraschend. Wenn du ein junger Palästinenser bist – du hast nichts zu tun und kein Einkommen – und deine Cousins, Brüder, Onkel sind alle verwundet, verletzt, gedemütigt, verhaftet worden ... und dann gibt es die Hamas, eine Organisation mit Waffen, die versucht, sich zu wehren. Da ist es doch naheliegend, dass sich die Leute ihr anschließen. Die Widerstandsfähigkeit der Hamas ist außerdem zum Teil auf ihre Struktur zurückzuführen. Die Muslimbruderschaft, die Mutterorganisation dieser Form des Islamismus, war schon immer außerordentlich widerstandsfähig. Sie ähnelt der Rashtriya Swayamsevak Sangh, einer rechtsgerichteten paramilitärischen Organisation in Indien, die auf sogenannten „Familien” aufbaut. Jede Familie hat ein Oberhaupt, das der nächsten Ebene unterstellt ist, und so weiter. Es handelt sich um eine sehr widerstandsfähige Struktur, die in der Lage ist, sich immer wieder neu zu formieren. Hinzu kommt, dass die Hamas den Gazastreifen seit zwanzig Jahren regiert. Alles, was Israel bombardiert – neun Universitäten, 36 Krankenhäuser, Hunderte von Schulen –, wurde unter der Hamas gebaut. Das Leben in Gaza war relativ normal, und die Hamas war nicht inkompetent. In vielerlei Hinsicht ist die Hamas die Regierung. In Krisenzeiten wenden sich die Menschen daher an sie. Wer sonst soll die Hilfskonvois schützen? Das bedeutet nicht, dass die Menschen in Gaza die Hamas ideologisch unterstützen. Viele sind wütend, dass sie Gaza in diesen verheerenden Krieg hineingezogen hat. Aber das sind die Strukturen, die das Land am Laufen halten und die es durch zwei Jahre Krieg gebracht haben.

Hat die öffentliche Unterstützung für die Hamas in Gaza seit Beginn des Krieges abgenommen?
Ja, drastisch. Nach allem, was man hört, ist die Hamas nicht beliebt. Es gab sogar Anti-Hamas-Demonstrationen. Dennoch sind die Alternativen noch schlimmer. Bewaffnete Banden, die angeblich von Israel unterstützt werden, sind noch bedrohlicher. Unterm Strich ziehen die Menschen also die Hamas einer mafiösen Herrschaft vor. Derzeit ist Gaza so zerstört, dass die Menschen ums nackte Überleben kämpfen und gar nicht politisch denken. Sie wollen nur Nahrung und Sicherheit. Sie sind erschöpft und desillusioniert.

Wie hat es die Hamas dann geschafft, trotz militärischer Verluste, Attentaten und an eine Hungersnot grenzenden Zuständen die Kontrolle zu behalten?
Da es seit fast zwanzig Jahren keine Wahlen mehr gab, konnte die Hamas rivalisierende Parteien zerschlagen und ihre Macht festigen. Seit Beginn des Krieges gibt es keinen politischen Raum mehr, Rivalen können sich nicht organisieren. Die Hamas geht zudem brutal gegen jede Opposition vor, sodass Angst herrscht.

Israel behauptet, die Hamas schöpfe UN-Hilfsgüter ab, die nach Gaza gelangen, oder verkaufe sie auf dem Schwarzmarkt. Ist das wahr?
Israel behauptet das seit Jahren, aber wir haben mit vielen Hilfsorganisationen, westlichen Diplomaten und Menschen vor Ort gesprochen – und es gibt keine wirklichen Belege dafür. Die Hamas ist nicht auf die Umleitung von Hilfsgütern als Einnahmequelle angewiesen. Das heißt nicht, dass nicht Hilfe abgezweigt wurde: Die Hamas versucht sicherzustellen, dass ihre Kämpfer und ihr nahestehende Personen Vorrang erhalten. Aber nicht in großem Umfang und nicht als Einnahmequelle. Aufgrund der von Israel errichteten Barrieren kommt derzeit nur sehr wenig Hilfe nach Gaza – und das, was ankommt, wird oft von kriminellen Banden geplündert. Ironischerweise werden diese Banden Berichten zufolge von Israel selbst bewaffnet. Israels Begründung für einen neuen Mechanismus für humanitäre Hilfe, die Gaza Humanitarian Foundation, basiert auf einer falschen Prämisse.

Wie hat der Krieg die Einstellung zur islamistischen Regierung der Hamas im Vergleich zur eher säkularen Palästinensischen Autonomiebehörde verändert?
Das ist kompliziert. Unter den Palästinensern geht es nicht immer um Religion versus Säkularismus. Sie sehen die Fatah – die Regierungspartei der Palästinensischen Autonomiebehörde – als korrupt und unfähig an. Die Hamas wird als fähiger, aber auch als gefährlich und unberechenbar angesehen. Es handelt sich weniger um eine ideologische als um eine praktische Kluft. Der Islamismus hat in den letzten zehn Jahren in der gesamten muslimischen Welt an Bedeutung verloren und könnte auch seinen Einfluss auf die palästinensische Politik verlieren. Aber unter Besatzungsbedingungen ist es schwierig, einen normalen politischen Diskurs zu führen.

Hat die Hamas bei ihrem Angriff am 7. Oktober 2023 die Vergeltungsmaßnahmen Israels unterschätzt, und hat das Ergebnis ihre Position im palästinensischen Kampf gestärkt oder geschwächt?
Der Angriff war lange im Voraus geplant. Aber paradoxerweise war er am Ende „erfolgreicher“ – das heißt tödlicher –, als die Hamas wahrscheinlich erwartet hat. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Israels Verteidigung so schwach sein würde. Als die Hamas in letzter Minute andere militante Organisationen alarmierte, drangen Tausende nach Israel ein, viele nicht unter dem Kommando der Hamas. So gab es mehr israelische Todesopfern und Geiseln als geplant. Das wiederum hat Israels extreme Reaktion ausgelöst. In der Vergangenheit gab es Kriege zwischen der Hamas und Israel, Geiselnahmen und dann ausgehandelte Lösungen. Die Hamas hat wahrscheinlich denselben Ablauf erwartet. Doch dieses Mal hat Israel mit der Zerstörung des Gazastreifens, der Vertreibung seiner Bevölkerung und dem Tod von Zehntausenden reagiert. Die Hamas hat sich schwer verrechnet und trägt Verantwortung dafür, dass es dazu gekommen ist. Außerdem scheint die Hamas geglaubt zu haben, der Angriff würde einen breiteren Krieg an mehreren Fronten auslösen – unter Einbeziehung der Hisbollah, des Iran und anderer –, der Israel zu Verhandlungen zwingen würde. Das ist nicht geschehen. Israel ist jede Bedrohung einzeln angegangen und hat die Situation genutzt, um mehrere regionale Gegner zu neutralisieren.

Wird die Hamas ins Exil gehen wie die PLO in den 1980er Jahren?
Das Exil der Kämpfer war in den 1980er Jahren das Szenario im Libanon, als Israel die PLO von dort vertrieb. Aber Gaza ist nicht wie der Libanon. Es ist palästinensisches Land, ihre Heimat. Es ist schwer vorstellbar, dass Tausende von Kämpfern freiwillig ins Exil gehen. Vielleicht könnten einige hochrangige Hamas-Führer während der Verhandlungen zum Exil gedrängt werden, aber es ist unrealistisch, eine Massenflucht zu erwarten. Dennoch ist das Endspiel ungewiss. Es ist möglich, dass viele Bewohner Gazas dauerhaft vertrieben werden. Fast sicher ist, dass die Hamas entwaffnet werden muss – entweder durch militärische Gewalt oder durch diplomatische Vereinbarungen. Israel wird eine Rückkehr zum Status quo ante, bei dem die Hamas eine bewaffnete Präsenz in Gaza hat, nicht akzeptieren. Selbst die Hamas hat erklärt, dass sie nicht davon ausgeht, Gaza in Zukunft regieren zu können.

Denken Sie, dass das erklärte Ziel Israels, die Hamas „auszulöschen“, das viele für unerreichbar halten, als Rechtfertigung für die Fortsetzung der groß angelegten Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Gaza dient?
Ja. Zum jetzigen Zeitpunkt hat Israel keine strategischen Ziele, die es durch den Kampf in Gaza erreichen könnte. Viele israelische Kritiker – darunter auch viele aus dem Sicherheitsapparat – sagen das mittlerweile offen. Es sei denn, das strategische Ziel ist ein radikal zionistisches, nämlich das Gebiet zu entvölkern und Platz für jüdische Siedlungen zu schaffen.

Das Interview führte Arshi Qureshi, es ist zuerst englisch bei „PassBlue“ erschienen.

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
 

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