Die alte Welt

Von Margret Karsch

In fast allen Ländern der Welt steigt die Lebenserwartung. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Geburten je Frau. Deshalb wächst der Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung. Die demografische Entwicklung verläuft regional unterschiedlich, doch sind alle Regierungen gefordert, die sozialen und ökonomischen Sicherheitssysteme anzupassen, um ein Altern in Würde zu ermöglichen. Vor allem die Länder des Südens sind darauf schlecht vorbereitet.

Der Anteil der über 60-Jährigen an der immer noch wachsenden Weltbevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen: Laut den Vereinten Nationen lag er 1950 bei 8 und 2007 bei 11 Prozent. 2050 werden 22 Prozent der Menschen auf der Erde älter als 60 Jahre sein. Dass Menschen heute im Durchschnitt ein höheres Alter erreichen als früher, ist ein Gewinn - wenn die Lebensqualität stimmt. Problematisch wird es, wenn die Alterung sich schneller vollzieht, als die gesellschaftlichen Anpassungsstrategien greifen. Vorausschauende individuelle und politische Maßnahmen - beispielsweise im Hinblick auf Pflege und Renten - sind erforderlich, um soziale und ökonomische Sicherungen zu schaffen, die es Älteren ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und in Würde zu altern.

Die Voraussetzungen dafür sind von Land zu Land verschieden, vor allem in Entwicklungsländern ganz andere als in Industriestaaten. Im Jahr 2005 waren weltweit 672 Millionen Menschen mehr als 60 Jahre alt, zwei Drittel davon lebten in den Ländern des Südens. Bis 2050 wird es etwa zwei Milliarden älterer Menschen geben, von denen dann rund vier Fünftel in den heutigen Entwicklungsländern leben werden.

Aber gerade dort fehlen gut ausgebaute Gesundheits-, Sozial- und Rentensysteme. Während in den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 84 Prozent der über 60-Jährigen eine Rente beziehen, sind es in Lateinamerika nicht einmal 20, in Südostasien keine 10 und in den meisten afrikanischen Ländern südlich der Sahara sogar weniger als 5 Prozent. Viele der Älteren haben nie Lesen und Schreiben gelernt, häufig für geringe und unsichere Einkommen in der Landwirtschaft gearbeitet und nie genug übrig gehabt, um privat für das Alter vorzusorgen. Das trifft vor allem Frauen, denn sie besitzen im Durchschnitt überall noch weniger Geld als Männer. Und sie leben länger: Während Frauen heute rund die Hälfte der Weltbevölkerung stellen, lag ihr Anteil an der Altersgruppe ab 60 im Jahr 2005 bei 54 Prozent, der Anteil in der Altersgruppe ab 80 sogar bei 63 Prozent. Hinzu kommt, dass sich die traditionellen Familiennetze zunehmend auflösen. Zum einen werden weniger Kinder geboren, zum anderen finden sie auf dem Land immer seltener Arbeit und ziehen deshalb in die großen Städte. Dort lebt inzwischen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.

Die demografische Entwicklung verläuft regional sehr unterschiedlich. In Asien wird die Zahl der über 65-Jährigen im Jahr 2025 rund 480 Millionen (10,0 Prozent der Weltbevölkerung) betragen - gegenüber rund 215 Millionen im Jahr 2000 (5,8 Prozent). In Südkorea, Taiwan und Thailand wächst der Anteil der Älteren infolge eines starken Rückgangs der Geburtenzahlen rapide. Das trifft auch auf China zu. In dem bevölkerungsreichsten Land der Welt leben mehr als 1,3 Milliarden Menschen. 8 Prozent von ihnen sind älter als 65 Jahre. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass der Anteil der Älteren dort bis 2025 auf 14 Prozent steigen wird. Die Ende der 1970er Jahre eingeführte Ein-Kind-Politik hat die Kinderzahl je Frau von damals 4,9 (1970 bis 1975) auf 1,6 im vergangenen Jahr gesenkt. Die menschenrechtlich umstrittene Maßnahme hat immerhin dazu beigetragen, dass sich die medizinische Versorgung verbessert hat und die Lebenserwartung zwischen 1950 und 2005 von 40,8 auf 71,5 Jahre gestiegen ist. Doch Chinas Bevölkerung altert nun immer schneller, ohne dass die Regierung darauf vorbereitet wäre, im Jahr 2025 die prognostizierten rund 290 Millionen Älteren zu versorgen. Die Ein-Kind-Generation wird finanziell kaum in der Lage sein, die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre zu unterstützen. Hier bedroht das Tempo der Alterung nicht nur die Entwicklung, sondern auch den sozialen Frieden.

In den Industriestaaten liegt das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung meist höher als in den weniger entwickelten Ländern. Deren Anteil an der Weltbevölkerung ist allerdings viel größer, und die Menschen dort haben weniger Zeit, sich auf den demografischen Wandel einzustellen. Denn in den meisten Ländern Asiens, Südamerikas und in einigen Regionen Afrikas sinken die Kinderzahlen je Frau und steigt die Lebenswartung schneller, als dies früher in den heutigen hoch entwickelten Ländern der Fall war. Unter den Ländern, in denen bereits heute sehr viele alte Menschen leben, sticht Japan hervor: Hier hat sich der Anteil der über 65-Jährigen in nur 26 Jahren verdoppelt. Mit 22 Prozent Bevölkerungsanteil in dieser Altersgruppe im Jahr 2008 steht Japan damit weltweit an der Spitze.

Der Anteil der Älteren in Italien und Deutschland liegt nur knapp darunter. Außer Japan gehören alle zwanzig Staaten, die weltweit den höchsten Anteil von über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung aufweisen, zur Europäischen Union. Hier werden immer weniger Menschen geboren und sie werden immer älter: Pro Jahrzehnt steigt die Lebenserwartung in den Industriestaaten etwa um zwei Jahre. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau in den drei Ländern mit den meisten Älteren beträgt 1,3 und erreicht damit bei weitem nicht den Wert von 2,1, der nötig wäre, damit die Bevölkerungszahl langfristig konstant bleibt.

Die Bevölkerung schrumpft und altert, und die gegenwärtige Zuwanderungspolitik bietet keine Lösung für die damit verbundenen Probleme. Japan etwa hat so gut wie keine Zuwanderung - es verfügt aber längst nicht über das notwendige Personal im Gesundheitsbereich, insbesondere in der Altenpflege. In vielen europäischen Staaten dagegen füllen ausländische Fachkräfte die Lücken. Doch damit wird das Problem vorerst nur weitergereicht - die Länder, die es sich leisten können, werben Arbeitskräfte ab. So arbeiten polnische Zahnarzthelferinnen in deutschen Praxen, iranische Ärztinnen in Großbritannien, ägyptische Ingenieure in Italien. Der Verlust an Fachkräften bremst die Entwicklung der Herkunftsländer, auch wenn die Abgewanderten ihren Angehörigen in der Heimat Geld überweisen. Vor allem junge Menschen verlassen ihre Heimatstaaten, um woanders ihr Glück zu suchen. Zurück bleiben die Alten und die Kinder.

In vielen osteuropäischen Ländern, in denen Frauen im Durchschnitt lediglich 1,3 (Ukraine) oder 1,4 (Weißrussland) Kinder bekommen, beschleunigt die Abwanderung die Alterung der Bevölkerung zusätzlich. Und das, obwohl dort gegen den Trend die Lebenserwartung sinkt. Alarmierend sind etwa in der Ukraine die hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie die hohe Zahl von HIV-Infektionen, die vor allem Menschen im arbeitsfähigen Alter treffen. In den 1960er Jahren war die Lebenserwartung in der Sowjetunion ebenso hoch wie in den USA. Heute kann ein neugeborener russischer Junge laut den Vereinten Nationen nur noch mit 65,5 Lebensjahren rechnen, ein US-Amerikaner dagegen mit 78,2.

In vielen Länder Afrikas ist die Lebenserwartung ebenfalls sehr niedrig: Sie liegt in den mittleren, westlichen und östlichen Länder des Kontinents nur knapp über oder sogar unter 50 Jahren. Dennoch ist die Situation völlig anders, da hier weltweit die meisten Kinder geboren werden. Im Durchschnitt bekommt jede afrikanische Frau 4,9 Kinder; Niger und Guinea-Bissau führen mit 7,1 Kindern je Frau die Liste an, Mauritius und Tunesien stehen mit 1,7 respektive 2,0 Kindern je Frau ganz hinten. Viele Kinder und das hohe Risiko, früh zu sterben, sorgen gemeinsam dafür, dass die Bevölkerungen vieler afrikanischer Länder nur langsam altern.

Deutliche Unterschiede in der Bevölkerungsstruktur von mehr und weniger entwickelten Ländern zeigen sich auch im Medianalter. Es beschreibt jenes Alter, das eine Bevölkerung zahlenmäßig in zwei Hälften teilt (ein Hälfte ist jünger, die andere älter). Uganda weist mit 15 Jahren das weltweit geringste Medianalter auf und Japan mit 43 Jahren das höchste. Im globalen Mittel liegt es bei 28 Jahren. Bis zum Jahr 2050 sagen die Vereinten Nationen einen Anstieg des weltweiten Medianalters auf 38 Jahre voraus. Es gibt aber auch entwickelte Regionen, die relativ jung sind, etwa die USA mit einem Medianalter von 36: Hier bringen Frauen durchschnittlich mehr Kinder zur Welt als in der EU.

In Japan und Ozeanien werden wohl auch künftig die meisten älteren und die ältesten Menschen leben: Das Medianalter wird dort bis 2100 vermutlich auf über 60 Jahre steigen. Westeuropa mit einem Anteil von 46 Prozent über 60-Jähriger an der Bevölkerung wird dann die zweitälteste Region sein, während Nordamerika mit 39 Prozent in dieser Altersgruppe deutlich jünger bleibt. Das volkswirtschaftlich wichtige Verhältnis von Menschen im erwerbsfähigen Alter zu Rentnern fällt in der insgesamt jüngeren US-Bevölkerung günstiger aus als in der alternden Bevölkerung der EU-Staaten. So kommen in den USA 5,4 Erwerbsfähige auf einen Rentner. In Europa liegt das Verhältnis gegenwärtig bei 3,8 zu eins. Bis 2030 erwarten die Demografen für die USA heutige europäische Verhältnisse. In Europa werden jedoch auf einen über 65-Jährigen schätzungsweise nur noch 2,4 Erwerbsfähige kommen.

Die einzelnen Länder müssen spezifische Lösungen für den Umgang mit der Alterung finden. Dass Menschen heute im Durchschnitt länger leben als früher, ist an sich ein Fortschritt - ein noch größerer wäre es, wenn die Gesellschaften es gleichzeitig als ihre Aufgabe betrachteten, die Unantastbarkeit der Würde auch im Alter zu gewährleisten.

Margret Karsch ist seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und war zuvor Lehrbeauftragte an den Universitäten in Göttingen und Lüneburg.

 

 

erschienen in Ausgabe 4 / 2009: Alte Menschen: Zu wenig geachtet
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