Die ganze Macht den Weißen

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Guatemala
Der Staat Guatemala wurde vor 200 Jahren von einer kleinen weißen Elite gegründet. Die rassistische Ausgrenzung der Maya-Bevölkerung prägt ihn bis heute.

Maya-Frauen sitzen als Bettlerinnen auf den Bürgersteigen im Zentrum von Guatemala-Stadt. Sie tragen ihre bunte Tracht und haben meist ein Kind dabei. Andere verkaufen Erdnüsse oder tropische Früchte aus einem Korb oder einer Schubkarre, die sie vor sich herschieben. Maya-Männer – in aller Regel nicht in Tracht – verhökern auf den Straßen Hüllen und Ladegeräte für Mobiltelefone oder Souvenirs für Touristen. Viele stehen in Uniform als Wächter vor Parkplätzen und Einkaufszentren. In Panajachel, dem Ferienort am malerischen Atitlán-See, sind traditionell gekleidete Maya-Kinder folkloristisches Beiwerk für die Besucher. Sie verlangen einen US-Dollar, wenn man ein Foto von ihnen machen will.

Die meisten Maya Guatemalas aber leben im schwer zugänglichen Hinterland. Dort, wo die Böden karg und die Straßen schlecht sind, wo der Staat kaum präsent ist. Viele von ihnen sind Analphabeten und sprechen kein Spanisch, sondern eine der über 20 Maya-Sprachen. Mehr als die Hälfte ihrer Kinder ist chronisch unterernährt, in manchen Gegenden leben über 80 Prozent unterhalb der Armutsgrenze.

Obwohl die Maya gut die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung stellen, sind sie in staatlichen Institutionen kaum vertreten. Von den 158 Parlamentariern gehören derzeit nur vier zu ihrer Volksgruppe. In ein Ministeramt schaffen sie es so gut wie nie. Eine der wenigen Ausnahmen ist Otilia Lux de Cotí: Sie leitete von 2000 bis 2004 das Ministerium für Kultur und Sport – und selbst in dieser Position schlug ihr Rassismus entgegen. „Ich hatte Besucher im Ministerium, die sich hinterher die Hände mit Alkohol desinfiziert haben, weil sie eine Indígena angefasst hatten“, erinnert sie sich. „Die Maya werden noch immer als Teil des Waldes wahrgenommen, wie die Tiere.“

„Geduldete Indios“ als Feigenblatt

Die Historikerin Marta Elena Casaús Arzú, die an der Autonomen Universität von Madrid lateinamerikanische Geschichte lehrt, nennt Ausnahmen wie Lux de Cotí die „geduldeten Indios“. Sie seien gewissermaßen das Feigenblatt, das verdecken soll, dass der guatemaltekische Staat durch und durch rassistisch ist. Ihre im Jahr 1992 erstmals veröffentlichte Studie über Abstammung und Rassismus kommt zu dem Schluss: „Rassismus ist ein historisch-strukturelles Element des guatemaltekischen Staats.“ Besonders offensichtlich werde dies, wenn Maya Forderungen an den Staat stellen. Zum Beispiel in der seit rund zwei Jahren laufenden Debatte über die Verankerung ihres traditionellen Rechtssystems in der Verfassung des Landes.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.
Seit dieses Thema diskutiert wird, zirkulieren in den sogenannten sozialen Medien und in der überwiegend sensationslüsternen Presse des Landes Fotos von Leichen oder übel zugerichteten Verletzten, von denen behauptet wird, sie seien Opfer der Maya-Justiz. Solche gefälschten Nachrichten spielen mit dem unter Weißen und Mestizen – das sind Nachkommen eines weißen und eines Maya-Elternteils – weit verbreiteten Vorurteil, Prügelstrafen und Lynchmorde seien Teil der traditionellen indigenen Rechtsprechung. Andy Javalois, Professor für Maya-Recht an der Universität Rafael Landívar in Guatemala-Stadt, nennt dies „ein verlogenes Propagandaargument der politischen Rechten“. Lynchjustiz komme in Guatemala zwar häufiger vor als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern, sie habe aber „mit dem Recht der Maya nichts zu tun“. Alle ihm zur Verfügung stehenden Statistiken zeigten, dass von Maya bewohnte ländliche Gegenden die friedlichsten in Guatemala seien. „Lynchmorde sind ein überwiegend städtisches Phänomen.“

Uralte Vorurteile ausgegraben

Pedro Ixchiu kennt sich mit beiden Rechtssystemen aus, dem von Spanien geerbten guatemaltekischen und dem der Maya. Er ist studierter Jurist und arbeitet als Anwalt, hat aber auch als ehemaliger Bürgermeister von Totonicapán nach der Tradition seines Volkes Recht gesprochen. Das mündlich überlieferte und von Ort zu Ort variierende Rechtssystem ist zwar nicht legal, wird aber trotzdem in vielen Maya-Gemeinden angewandt. Das Ziel dieser Rechtsprechung, sagt Ixchiu, „ist nicht, einen Delinquenten zu bestrafen, sondern die Harmonie in der Gemeinschaft wiederherzustellen“. Eben deshalb kennen die Maya kein Gefängnis, sehr wohl aber Schadenersatz und Arbeitsleistungen für die Opfer oder die Gemeinschaft.

Die Vorurteile aber sind stärker als die Realität. Im Jahr 1999 scheiterte ein erster Versuch, dieses Recht in der Verfassung zu verankern, nach einer Kampagne des mächtigen Unternehmerverbands CACIF und anderer rechter Zirkel, die auf solchen verlogenen Nachrichten aufgebaut waren, an einer Volksabstimmung. Maya nahmen an dieser Abstimmung kaum teil. Die Unterlagen waren nicht in ihren Sprachen verfasst.

Nicht nur während solcher Kampagnen werden uralte Vorurteile ausgegraben. Der Maya-Historiker Ajb’ee Jiménez hat in einer Studie über guatemaltekische Printmedien festgestellt, dass diese, wenn sie über Maya schreiben, „koloniale Vorstellungen reproduzieren“. Die Stereotypen seien dieselben wie unmittelbar nach der Eroberung des Landes durch Spanien vor 500 Jahren: Maya seien „gewalttätig, streitsüchtig und ein Hindernis für die Entwicklung des Landes, der Nation und des guten Funktionierens des Staats“. Die Maya selbst kämen in den Medien so gut wie nie zu Wort.

Casaús Arzú hat in ihrer Untersuchung noch viel Erschreckenderes herausgefunden: Bei einer repräsentativen Umfrage unter Mitgliedern der schmalen weißen Oberschicht befürworteten zehn Prozent der Befragten einen Völkermord an den Maya. Mehr als doppelt so viele bedauern noch heute, dass die Spanier bei der Eroberung die Urbevölkerung des Landes nicht ausgerottet haben. Und noch etwas hat Casaús Arzú festgestellt: Je höher der Bildungsgrad der Befragten – viele aus dieser Oligarchie haben in den USA oder in Europa studiert –, desto ausgeprägter ist ihr Rassismus. Und desto weniger wissen sie über die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen und über die Religion der Maya.

22 Familien beherrschen das Land

Diese Oligarchie stellt zwar nur einen winzigen Teil der gut 17 Millionen Einwohner Guatemalas, aber sie ist mächtig. Nach Casaús Arzú beherrschen 22 Familien das Land. Sie sind alle im Unternehmerverband CACIF vertreten, Mitglieder aus den meisten Familien sind Großaktionäre oder Aufsichtsräte der größten Banken. Andere sind Gründer oder Mitbesitzer der wichtigsten Privatuniversitäten, in denen ihre Ideologie weitergetragen und neue Kader herangezogen werden. Und diese Familien stellen Präsidenten, Minister, Bürgermeister und Bischöfe. Aus der Familie Aycinena etwa kamen allein im 19. Jahrhundert zwei Präsidenten, mehr als ein halbes Dutzend Minister, ein Erzbischof und ein Bischof. Sie gehört noch heute zu den einflussreichen Familien.

Auch die Historikerin Casaús Arzú stammt aus einer dieser Familien, die schon Minister und Präsidenten gestellt hat, zuletzt den im vergangenen Jahr verstorbenen Álvaro Arzú; er war Präsident von 1996 bis 2000, zuvor Außenminister und mehrfach Bürgermeister der Hauptstadt. Als Kind war es ihr verboten, mit Maya-Kindern zu spielen.

Etliche dieser großen Familien können ihren Stammbaum bis in die Zeit der spanischen Eroberung zurückverfolgen. Sie haben sich stets nur untereinander verheiratet und sind bis heute auf ihre „Reinheit des Bluts“ stolz. Bereits 15 Jahre nach seiner Ankunft in Guatemala im Jahr 1524 ließ der Eroberer Pedro de Alvarado die ersten weißen Frauen aus Spanien importieren und hat sie regelrecht an seine spanischen Mitstreiter verkauft. Das seien „Waren, die keine Ladenhüter sein werden“, schrieb er in seinem Tagebuch. Sie waren dafür zuständig, dass die Haut der kolonialen Elite weiß blieb.

Die Ureinwohner leisteten Zwangsarbeit

Der Reichtum dieser Familien stützte sich auf die sogenannten Encomiendas – riesige Landgüter, die ihnen die spanischen Krone übertragen hatte und auf denen die Ureinwohner Zwangsarbeit leisten mussten. Schon 1549 wurde ein Dekret zum Schutz der Quelle ihres Reichtums erlassen: „Keinem Mulatten, keinem Mestizen und keiner Person, die außerhalb einer Ehe geboren wurde, kann erlaubt werden, Indios in Encomiendas zu haben.“ Das heißt: Grundbesitzer, zu deren Vorfahren neben Weißen auch Schwarze oder Indígenas gehörten, hatten nicht das Recht, Maya zur Zwangsarbeit heranzuziehen.

Nur zwei späteren Einwanderergruppen ist es gelungen, in diesen elitären Zirkel aufgenommen zu werden. Um 1750 herum kam eine Gruppe von Basken ins Land, die sich geschickt mit Witwen alteingesessener spanischstämmiger Oligarchen verheiratete. Sie widmeten sich hauptsächlich der Produktion des damals gefragten Farbstoffs Indigo und waren deshalb keine Konkurrenz für die anderen Großgrundbesitzer.

Ende des 19. Jahrhunderts kamen dann deutsche, britische und belgische Familien dazu. Namen wie Dieseldorff, Klee oder Berger sind seither in Guatemala geläufig. Sie gründeten die ersten Banken und bauten die noch heute das Land prägenden Kaffeeplantagen auf. Sie eigneten sich innerhalb kürzester Zeit und zum Teil mit Gewalt Indígena-Land an und siedelten ganze Maya-Dörfer um. Vor allem die Deutschen verlangten von der Regierung, dass man ihnen Indígenas als Zwangsarbeiter zur Verfügung stelle. Der Wunsch wurde per Gesetz erfüllt. „Sie sahen in den Indígenas schlicht Lasttiere, die man wegen ihrer rassischen und kulturellen Minderwertigkeit zur Arbeit zwingen müsse“, schreibt Casaús Arzú. Der Rassismus der Zugewanderten habe den Rassismus der lokalen Eliten noch verschärft.

Die Stereotypen der weißen Elite

Bis heute pflegt die Oberschicht ein Bild der Maya, das Casaús Arzú zusammengefasst so beschreibt: Sie seien unterwürfig und fänden sich mit allem ab; sie seien verschlossen, faul, klein, dunkelhäutig und sie würden stinken. Mit diesen Stereotypen wird gerechtfertigt, dass man ihnen die schwersten Arbeiten zuteilt und sie deutlich schlechter bezahlt als Mestizen. Die Vorurteile beziehen sich dabei nicht auf eine soziale Klasse, sondern direkt rassistisch auf die Volksgruppe. Und genau nach diesen Stereotypen hat die weiße Elite nach der Unabhängigkeit 1821 ihren Staat aufgebaut.

Dieses Staatsmodell geht von der Überlegenheit der weißen Rasse aus und spricht trotzdem von nur einem guatemaltekischen Volk mit einer einheitlichen Kultur – eben derjenigen der weißen Oberschicht. Durchlässigkeit zwischen den Volksgruppen oder gar der Aufstieg der den Weißen untergeordneten Ethnien ist nicht vorgesehen. Der Staat ist nach diesem Modell der kleinen Elite vorbehalten. Casaús Arzú nennt dies eine „Pigmentokratie“: die verschiedenen ethnischen Gruppen würden nach ihrer Hautfarbe geordnet – ganz oben die Weißen und ganz unten die dunkelhäutigen Maya, schreibt sie in einem Essay. „Wenn der Staat dieses repressiv durchsetzt, folgt er der Logik rassistischer Diskriminierung und sozialer und politischer Exklusion bis hin zum Völkermord.“ Tatsächlich hat während des Bürgerkriegs (1960 bis 1996) in den Jahren 1982 und 1983, der Regierungszeit des Militärdiktators Efraín Ríos Montt, ein Völkermord an den Maya mit über 100.000 Toten stattgefunden. Casaús Arzú hält dies für eine beinahe logische Konsequenz des Staatsmodells. Eine Wiederholung sei auch heute denkbar.

Sie selbst war Gutachterin im Verfahren gegen Efraín Ríos Montt; der wurde 2012 wegen Verantwortung für den Völkermord von 1982-83 vor Gericht gestellt, ist aber vor einem rechtskräftigen Urteil am 1. April 2018 gestorben. Der Prozess hat Casaús Arzú dennoch Hoffnung gemacht. Zum ersten Mal seien Maya als Teil Guatemalas von einer staatlichen Institution so ernst genommen worden. Völkermord wurde von der Anklage als Politik dieses Staats gebrandmarkt. „Den Staat als rassistisch zu klassifizieren“, schreibt sie, sei der erste Schritt auf dem Weg hin zu einem „pluralen und multikulturellen Staat“.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2019: Rassismus
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