„Wir schreiben gerade Geschichte neu“

Proteste im Libanon
Seit Wochen gehen im Libanon Menschen auf die Straße und fordern einen Neuanfang für ihr Land. Vor allem die jungen Leute haben genug von den alten Politikern, die sich lieber selbst bereichern als etwas für die Allgemeinheit zu tun. Ein Bericht aus dem Herzen der Proteste.

Überlebensgroß ragt die Statue des im Jahr 2005 ermordeten libanesischen Journalisten und Intellektuellen Samir Kassir im Herzen von Beirut über dem nach ihm benannten Platz vor dem Zeitungsverlag, für den er einst schrieb. Er sitzt da und hört aufmerksam zu, könnte man meinen. Die Menschen unter ihm, mal 300, mal 60, diskutieren engagiert. Es kommen Studenten und Hausfrauen, Juristen und Ökonomen, Unternehmer und Arbeitslose; sie kommen aus Beirut und anderen Städten wie Tyros und Tripoli. Sie debattieren über das politische System im Libanon, den Konfessionalismus, nach dem Ämter an die Zugehörigkeit zu einer Religion gebunden sind. Dieses System wollen die Demonstranten abschaffen. Sie sind wütend auf die korrupte politische Elite und deren Nutznießer, die sich endlos bereichert haben nach Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990.

Es kommen Frauen, die gleiche Rechte fordern und verlangen, dass auch sie und nicht nur die Väter den Kindern die libanesische Staatsbürgerschaft weitergeben können. Es kommen Studenten, die sich weigern, als Bittsteller zu irgendwelchen Politikern zu gehen oder in eine Partei einzutreten, nur damit sie ihre Chancen auf einen Job vergrößern. Es kommen Mütter, die es satt haben, ihre Kinder nur einmal im Jahr zu sehen, weil die Jugend auf der Suche nach einer Zukunft auswandern muss. Und vor allem sind es immer wieder die Millennials, die jungen Leute zwischen 20 und 30, die klare Vorstellungen haben von einem modernen, fortschrittlichen, wirtschaftlich prosperierenden und demokratischen Libanon und dies laut aussprechen.

Samir Kassir wäre im siebten Himmel, wenn er dieses Engagement, die modernen Wertvorstellungen der Demonstranten und den Geist der Revolution, den die Jugend durch die Straßen trägt, erleben könnte. Er hat damals als Verfechter eines vereinten Libanon jenseits konfessioneller Schranken zusammen mit einer lebendigen Zivilgesellschaft die Samen gesät. Die Saat scheint jetzt aufzugehen, denn zum ersten Mal seit Libanons Staatsgründung im Jahr 1943 protestieren alle Libanesen gemeinsam: Schiiten, Sunniten, Christen, Atheisten, jung und alt, arm und reich. Kassir ist tot, heimtückisch durch eine Autobombe ermordet, aber sein Geist scheint weiterzuleben in dieser neuen Generation von Jugendlichen, die seit dem 17. Oktober 2019 auf die Straßen gehen.

Einen Raum geschaffen, in dem alle Menschen zu Wort kommen

Walid Fakhreddine, Aktivist, Filmproduzent und Freund des ermordeten Journalisten, ist von Anfang an dabei bei der Oktoberrevolution, wie sie inzwischen genannt wird. Er leitet die öffentlichen Diskussionen auf dem Samir-Kassir-Platz. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin“, sagt er: „Wir haben einen Raum geschaffen, in dem alle Menschen zu Wort kommen können. Die Jugend hat ganz klare Vorstellungen. Sie wollen die Werte der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Teilhabe tatsächlich leben.“

Autorin

Christina Förch Saab

ist Mitbegründerin von Fighters for Peace, einer libanesischen Organisation ehemaliger Kämpfer, Journalistin und Dokumentarfilmerin. Sie lebt seit dem Jahr 2000 in Beirut.
Bereits im Jahr 2005 war Fakhreddine ganz vorn mit dabei gewesen. Vor Kassirs Ermordung war der damalige Ministerpräsident Rafik Hariri von einer Bombe getötet worden. Nach dem Anschlag gingen tausende Libanesen auf die Straße. Damals war Fakhreddine so jung wie die meisten Demonstranten heute. Aber vor 14 Jahren ging es vor allem darum, die verhasste syrische Armee aus dem Libanon zu vertreiben und das Land von jahrelanger Besatzung und politischer Bevormundung zu befreien. Mit Erfolg: Am 14. März 2005 demonstrierten schätzungsweise eineinhalb Millionen Libanesen, normale Bürger, Parteigänger und Politiker gegen die syrische Besatzung und das syrische Regime, dem das Attentat auf Hariri angelastet wurde. Die syrische Armee verließ das kleine Land am Mittelmeer.

„Damals vertrauten wir noch den politischen Parteien, dass sie ein fortschrittliches Land aufbauen würden“, sagt Fakhreddine. „Doch das war ein Fehler. Wir wurden bitter enttäuscht.“ Nach dem Abzug der syrischen Armee gab es Neuwahlen, aber nach konfessionellem System und mit den alten Machthabern, die bereits seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990 am Ruder gewesen waren. Damals waren ehemalige Kriegstreiber der verschiedenen Milizen als Spitzenpolitiker eingesetzt worden – eigentlich nur als Übergangslösung, um Frieden zu schaffen. Doch diese Machtteilung nach Religionszugehörigkeit ist bis heute in Kraft: Die Sunniten stellen den Premierminister, die Christen den Präsidenten und die Schiiten den Parlamentssprecher. Dieses System zieht sich durch alle Ämter, von der Regierung zur Armee zu Ministerien, staatlichen Universitäten und teilweise sogar Privatfirmen.

Szenarien, die an Bürgerkriegszeiten erinnern

Das konfessionelle Wahlsystem, das Abgeordnete und Parteien nach Konfessionen aufteilt, verfestigt diesen Status quo und vertieft die Spaltung der Bevölkerung entlang religiöser Grenzen. Die Politiker schaffen wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten der Gefolgsleute, denn Politiker verteilen Arbeitsplätze, bezahlen Krankenhausrechnungen oder ein Stipendium für die Universität. Vor allem teilen sie die Staatspfründe unter sich auf: Von den Einnahmen aus Parkuhren bis zu staatlichen Großprojekten wie beispielsweise dem Bau eines Staudamms – die politische Elite verdient immer mit. Dieses System der Selbstbereicherung hat bis heute knapp dreißig Jahre lang funktioniert, doch jetzt ist es kollabiert.

„1990, am Ende des Bürgerkriegs, hatte der Libanon keine Staatsverschuldung“, sagt Ziad Saab, ein ehemaliger Kommandeur der Miliz der Kommunistischen Partei. Heute beläuft sich die Verschuldung auf etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – eine der höchsten Verschuldungsraten weltweit. Und der Korruptionsindex von Transparency International bescheinigt Libanon Platz 138 von 180 Ländern.

In den vergangenen Jahren ging es stetig bergab. 2015 gab es eine Müllkrise, Beirut und andere Städte kollabierten unter dem Dreck. Eine tragfähige Lösung ist bis heute nicht gefunden. Die Küste zum Mittelmeer ist voller Plastik, illegale und giftige Mülldeponien sind normal, das Abwasser fließt ungereinigt ins Meer. Die Lebenshaltungskosten steigen ständig, während die Gehälter der Angestellten, der Soldaten, Polizisten und Uniprofessoren drastisch gekürzt werden. Gleichzeitig genehmigen sich die Politiker höhere Diäten. Die Währung, das libanesische Pfund – auch während des Bürgerkriegs und in der Nachkriegszeit immer ein Garant der Stabilität –, schwächelt. Für die Libanesen, die auf finanzielle Zuwendungen von Verwandten und Freunden im Ausland angewiesen sind, ist das ein großes Problem.

Bürger, die Waldbrände löschen

Seit September kommt es zunehmend zu Szenarien, die an Bürgerkriegszeiten erinnern: Das Benzin ist knapp, Brot teuer, lange Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Immer mehr Menschen haben Probleme, ihre Familien zu ernähren und ihre Kinder in die Schule zu schicken, weil sie mehr und mehr verarmen. Am 13. Oktober gab es im Schuf-Gebirge, einem Waldgebiet in der Mitte des Landes, die größten Waldbrände seit Jahrzehnten. Die teuer eingekauften Löschhelikopter blieben am Boden, weil der Staat angeblich kein Geld zur Instandhaltung hatte. Der Libanon musste Hilfe aus dem Ausland anfordern, um der Brände Herr zu werden. Die Regierung war unfähig, aber die Bürger sprangen in die Bresche. Aus allen Landesteilen kamen Menschen zu den Brandherden und halfen bei den Löscharbeiten. Das Entsetzen über die Zerstörung und über die Unfähigkeit der Politik war groß, doch die Freude über den sonst so seltenen nationalen Zusammenhalt und die Solidarität war überwältigend.

Und Mitte Oktober gab es Informationen über die geplante Whatsapp-Steuer, eigentlich eine Gebühr: Umgerechnet 18 Cent pro Tag sollten die Libanesen für die Nutzung von Nachrichten-Apps bezahlen. „Die Steuer traf wirklich jeden – vom armen Schlucker bis zur hippen Gesellschaft“, sagt Younis Abou Khzam, ein 27-jähriger Student und Schauspieler. Die Whatsapp-Steuer habe das Fass zum Überlaufen gebracht und den Libanesen klar gemacht, „dass dieses System am Ende ist und dass wir, die Libanesen, es hinter uns lassen müssen“.

Am 16. Oktober 2019  gingen Menschen in den Armenvierteln auf die Straßen und schrien ihre Wut hinaus: dass sie seit Monaten ihren Kindern nur Kartoffeln vorsetzen können, weil das Geld fehlt; dass Familienangehörige vor den Krankenhäusern verrecken, weil sie ohne teure Krankenversicherung nicht behandelt werden – und dass die Politiker sich ihre Whatsapp-Steuer sonstwohin stecken können.

In den folgenden Tagen, ab dem 17. Oktober, demonstrierten Millionen Bürger. Sie riefen einen Politikernamen nach dem anderen und wünschten, dass diese besser nie geboren worden wären. Der Respekt vor der politischen Elite, die sich über Jahrzehnte schamlos bereichert hatte, war in Luft aufgelöst. „Es ist eine Revolution der Bürger. Sie hat keinen Führer und das ist überhaupt das Beste an allem. Niemand beansprucht dieses Aufbegehren für sich, die Revolution ist aus der Menge entstanden“, sagt Walid Fakhreddine.

Und der ehemalige Kämpfer Ziad Saab erinnert sich: „Als ich mit 14 Jahren in den Krieg zog, träumte ich von so einem kollektiven Aufbegehren und einem Kampf für ein modernes Land mit einem demokratischen System und sozialer Gerechtigkeit. Mein Traum ist jetzt in Erfüllung gegangen, zumindest was den Aufstand angeht.“ Saab ist aber skeptisch, dass die Forderungen der Demonstranten erfüllt werden; das alte System leiste Widerstand. Die Elite werde ihre Privilegien nicht aufgeben wollen, allen voran nicht die schwerbewaffnete Hisbollah.

Der Protestruf der Demonstranten schließt auch die Hisbollah ein

Die Hisbollah hatte ab Mitte der 1980er Jahre die südliche Libanon-Grenze in einer Art Guerrilla-Krieg gegen Israel verteidigte – bis zum Mai 2000, als die israelische Armee ihre Truppen abzog. Gleichzeitig gelang es der sogenannten „Partei Gottes“, einen Staat im Staat aufzubauen – mit Krankenhäusern, Schulen, Infrastruktur und Jobs. Finanziert wird alles in Milliardenhöhe vom Iran, womit der wiederum seinen Einfluss in der Region ausbaut. Seit den Wahlen im Jahr 2018 stellt die Hisbollah mehrere Minister und die relative Mehrzahl der Abgeordneten im libanesischen Parlament. Der Hisbollah gelang es mit dem Wahlsieg, ihre militärische Übermacht politisch zu legalisieren. Seitdem prägt sie maßgeblich die politischen Entscheidungen im Land.

„Kullun yane kullun“ – alle, wirklich alle sollen das politische Spektrum verlassen: Dieser Protestruf der Demonstranten schließt auch die Hisbollah ein, ohne sie direkt beim Namen zu nennen. Die Partei Gottes schickt immer wieder gewalttätige Schergen in die sonst friedlichen Demonstrationen, die randalieren, Reifen anzünden, Zelte der Demonstranten zerstören, Schaufenster zertrümmern – ein Einschüchterungsversuch und untrügliches Zeichen dafür, wer die militärische Macht im Libanon hat.

„Wir sind in einem Schwebezustand: zwischen Aufbruch in ein neues, besseres Land und einem neuen Bürgerkrieg“, sagt Saab. Seit Jahren arbeitet der ehemalige Kämpfer für Frieden und Versöhnung, zusammen mit anderen ehemaligen Kombattanten der Organisation Fighters for Peace. Die politische Elite habe bislang verhindert, dass die Bürgerkriegsvergangenheit aufgearbeitet werde, sagt Saab. Kämpfer und Kriegsherren seien nie zur Rechenschaft gezogen und die Opfer der Gewalt nie entschädigt worden.

Fighters for Peace kämpft gegen das Vergessen – mit Zeitzeugen, die während des Bürgerkriegs Leid mitverursacht, sich seitdem aber von politischer Gewalt losgesagt haben. Im Gegensatz zu den Machthabern im Land erkennen die Kämpfer von Fighters for Peace ihren Teil der Schuld an. „Nur wenn wir uns unserer Vergangenheit stellen, können wir eine bessere Zukunft schaffen“, sagt der ehemalige Kommandant.

Heute, im Jahr 2019, fordern die Demonstranten vor allem auch, dass die ehemaligen Kriegsherren, die als Politiker 30 Jahre lang das Land gelenkt haben, endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Und Walid Fakhreddine, der die Debatten auf dem Samir-Kassir-Platz in Beirut leitet, ist zuversichtlich, dass sich das Blatt wendet: „Wir schreiben gerade Geschichte neu.“

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erschienen in Ausgabe 12 / 2019: Armut: Es fehlt nicht nur am Geld
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