„Moria ist kein Ort, an dem irgendein Mensch leben sollte“

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Lernen unter widrigen Umständen: Im Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos gibt es inzwischen mehrere Zelte, in denen von früh morgens bis spätabends Kinder, aber auch Erwachsene, in verschiedenen Sprachen sowie in Kunst und Musik unterrichtet werden.

Flüchtlinge
Die Geflüchteten auf der Insel Lesbos müssen aufs Festland gebracht werden, fordert der EKD-Bevollmächtigte Martin Dutzmann. Und Deutschland sollte in der Asylpolitik endlich EU-Recht beachten.

Herr Dutzmann, Sie waren in Griechenland und haben sich über die Lage von Flüchtlingen dort informiert. Welche Eindrücke haben Sie mitgebracht?
Wir waren zunächst in Athen und haben uns die Arbeit der Organisation „Equal Rights Beyond Borders“ angesehen. Das sind junge Juristinnen und Juristen, die geflüchtete Menschen vor allem auf den griechischen Inseln, aber auch in Athen, menschenrechtlich beraten und vor Gericht vertreten. Was mich verblüfft hat: Bislang haben sie in allen Fällen, die sie vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht haben, Recht bekommen. Und vor deutschen Verwaltungsgerichten haben sie in mehr als 80 Prozent der Fälle Erfolg.

Um welche Fälle geht es da?
Zum Beispiel um Familienzusammenführung gemäß der Dublin-III-Verordnung. Sie regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten der EU für Asylverfahren und sieht vor, dass Familien zusammengeführt werden sollten, wenn zum Beispiel Kinder allein in Griechenland ankommen, sich aber Eltern oder Geschwister in einem anderen EU-Mitgliedsstaat befinden. Griechenland richtet in so einem Fall ein Aufnahmeersuchen etwa an Deutschland, wenn dort ein Mitglied der Kernfamilie lebt. Allerdings lehnt Deutschland, insbesondere das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, fast drei Viertel dieser Gesuche unrechtmäßig ab. Das heißt: Geltendes Recht wird bewusst nicht umgesetzt. „Equal Rights Beyond Borders“ verhilft den Betroffenen vor Gericht zu ihrem Recht – mit beachtlichem Erfolg.

Wie haben Sie die Lage auf der Insel Lesbos wahrgenommen?
Das Lager Moria ist für maximal 3000 Menschen ausgelegt, aber seit Jahren hoffnungslos überfüllt. Zwischen 20.000 und 30.000 Menschen leben derzeit dort. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen haben uns gesagt, dass sie neu ankommende Flüchtlinge nicht mehr auch nur annähernd menschenwürdig unterbringen können. Die ankommenden Menschen erhalten je eine Isomatte und vielleicht noch ein Zelt und ein paar Sanitärartikel, wenn sie Glück haben. Danach sind sie auf sich allein gestellt. Die Situation ist also wirklich schlimm, es fehlt am Allernötigsten: an ärztlicher Versorgung, Hygiene, ordentlichem Essen, Schutz. Innerhalb des Lagers gibt es eine sogenannte Sicherheitszone für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die aber keineswegs sicher ist: Vor wenigen Monaten erst ist dort ein Minderjähriger erstochen worden. Insgesamt sind über die Hälfte der Menschen im Lager Frauen und Kinder. Dabei ist Moria kein Ort, an dem irgendein Mensch leben sollte.

Wie sorgen die Bewohner des Lagers für sich selbst?
Es gibt im Kleinen eine rege Wirtschaftstätigkeit, damit hatte ich so nicht gerechnet. Viele Menschen haben in ihren Zelten oder Baracken kleine „Läden“ eröffnet und verkaufen Lebensmittel wie Obst und Gemüse, reparieren Schuhe oder betreiben ein Friseurgeschäft. Manche backen auch Brot. Das tun sie, um Geld zu verdienen, aber sicher auch, um ihren Tag zu strukturieren und in ihrer Perspektivlosigkeit etwas Sinnvolles zu tun. Das widerlegt die weit verbreitete Annahme, da kämen Leute, die sich bei uns ausruhen wollten. Bei aller Verzweiflung im Lager merkt man, dass viele Menschen den Lebensmut nicht verlieren wollen und versuchen, ihre Würde zu bewahren.

Wie sieht es außerhalb des offiziellen Lagers aus?
Die Behausungen aus Planen, Pappen und Brettern erstrecken sich immer weiter in die Olivenhaine hinein. Die Bäume werden von Flüchtlingen zum Teil arg gestutzt, weil sie das Holz zum Feuermachen brauchen. Es gibt zum Teil Strom, allerdings würde jeder Elektriker die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, so wie die Leitungen wild über die Olivenbäume gelegt sind. Was mich sehr beeindruckt hat, war das Schul-Projekt „Waves of Hope“, Wellen der Hoffnung: Ein Lehrer aus Afghanistan hat vor geraumer Zeit angefangen, den Menschen im Lager verschiedene Sprachen beizubringen sowie in Kunst und Musik zu unterrichten. Nach und nach haben sich andere Lehrer und Lehrerinnen angeschlossen. Heute besteht die Schule aus drei Zelten, in denen von morgens sechs Uhr bis abends zehn Uhr in Schichten Klassen von 50 oder mehr Menschen Französisch, Englisch, Deutsch, Griechisch, Kunst und Musik lernen – und zwar Menschen jeden Alters. Wir haben mit einer 20-jährigen Englischlehrerin aus Afghanistan gesprochen, die uns erzählt hat, dass sie Männer unterrichtet, die ihre Großväter sein könnten. Das finde ich vor dem Hintergrund der patriarchalen Kultur in Afghanistan sehr bemerkenswert. „Waves of Hope“ zeigt: Man kann in all dem Elend, das in dem Lager herrscht, auch Ermutigendes entdecken. Allerdings ist die Schule in ihrer Existenz bedroht, weil manche Hilfsorganisationen sagen, der Platz werde gebraucht, um Flüchtlinge unterzubringen.

Hatten Sie Kontakt zu Inselbewohnern?
Ja, zu unserer Delegation gehörten auch die Bürgermeister von Potsdam und von Rottenburg am Neckar, und mit beiden habe ich den Berater des Bürgermeisters von Mytilini getroffen, des Hauptortes von Lesbos. Er hat uns deutlich gemacht, dass die Bewohner, die anfangs sehr hilfsbereit waren, sich inzwischen von der griechischen Regierung allein gelassen fühlen. Sie hätten gar kein Verständnis dafür, wenn ihnen jetzt angesichts der Proteste vorgeworfen werde, sie seien Rassisten. Die Bevölkerung sei einfach an der Grenze dessen, was sie noch leisten kann. Die Geflüchteten können sich mehr oder weniger frei auf der Insel bewegen, und das Leben der Bewohner werde dadurch stark geprägt. Beunruhigend ist, dass in diesen Tagen gewaltbereite Gruppen Flüchtlinge, aber auch Helfer und Journalisten angreifen – und die Polizei oft tatenlos zuschaut.

War das nachvollziehbar für Sie, dass die Bewohner stark belastet sind?
Ja, durchaus. Ich bin überzeugt, dass es richtig wäre, die Geflüchteten von Lesbos und von den anderen beiden Inseln Samos und Chios zunächst aufs griechische Festland zu bringen, wo sie besser versorgt werden könnten. Das würde für alle Seiten eine erste Entlastung bringen.

Was erwarten Sie von der Politik in Brüssel und in Berlin?
Wenn die Geflüchteten einmal auf dem Festland sind, muss überlegt werden, wie sie auf die Länder der EU verteilt werden können. Denn es können nicht alle in Griechenland bleiben.

Es ist doch ausgeschlossen, dass sich die EU auf eine Verteilung einigt.
Es gibt aber willige Staaten, die bereits zugesagt haben, Menschen aufzunehmen, darunter Finnland, Portugal und Frankreich. Deutschland müsste nicht einmal vorangehen, sondern sich nur anschließen. Die von Politikern geäußerte Furcht, man schaffe durch die Aufnahme Präzedenzfälle, darf dem nicht entgegenstehen. Und es muss vor allem geltendes Recht angewandt werden. Ein Beispiel: Griechenland hat im vergangenen Jahr an Deutschland 1448 Übernahmeersuche aus familiären Gründen gemäß der Dublin-Verordnung gestellt. Davon hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1384 abgelehnt. Das zeigt, dass Deutschland EU-Recht einfach nicht umsetzt. Davon abgesehen: Im Moment zeichnet sich ab, dass die EU das Konzept der „Hotspots“ zur Grundlage einer reformierten Asyl- und Flüchtlingspolitik machen möchte, also die zentrale Sammlung von Geflüchteten an Außenstellen der EU. Davor warnen wir eindringlich, denn auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln kann man besichtigen, dass das nicht funktioniert. Wir fordern stattdessen weiterhin legale und sichere Wege nach Europa.

Wie bewerten Sie das Vorgehen der Türkei seit dem Wochenende, Flüchtlinge durchzuwinken und an die griechische Grenze zu schicken? Da entsteht ja gerade der nächste Hotspot.
Die Türkei hat 3,6 Millionen Geflüchtete aufgenommen und ist dadurch hoch belastet. Andererseits ist es schwer erträglich zu sehen, wie Präsident Erdogan die Geflüchteten jetzt instrumentalisiert, ihnen Hoffnung macht und sie als Faustpfand nimmt, um seinen politischen Willen in Syrien durchzusetzen. Das ist nicht hinzunehmen. Es ist aber ebenso schwer erträglich zu sehen, dass der europäische Grenzschutz in Griechenland mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Geflüchtete vorgeht, auch gegen Kinder.   

Was sollte geschehen?
Auch ich habe keine Lösung parat, aber so geht es nicht. Wir dürfen nicht unsere Werte verraten oder Grundrechte abschaffen. Mein Ärger richtet sich gegen die EU als Ganze, gegen die Regierungen innerhalb der EU, die es in fünf Jahren nicht geschafft haben, eine konsistente, menschenrechtlich orientierte Flüchtlings- und Migrationspolitik zu entwickeln. Wir stehen immer noch genau da, wo wir 2015 schon waren.

Die EU hat gedacht, mit dem Türkei-Deal sei sie das Problem los, und sowohl die EU-Kommission als auch die Bundesregierung betonen seit Tagen, der Deal gelte immer noch. Wie bewerten Sie das?
Die evangelische Kirche hat sich immer kritisch zu dem Deal geäußert, weil er lediglich ein Problem ausgelagert hat, ohne es zu lösen. Das sehe ich jetzt mit Macht erneut auf uns zukommen. Meiner Ansicht nach hat Erdogan den Deal de facto gekündigt. Ich sehe nicht, wie die Abmachung gerettet werden sollte.

Beobachter sagen, wenn der Krieg in Syrien beendet werden könnte, dann würde sich das Problem deutlich entschärfen. Was sollte die EU, was sollte die Bundesregierung hier tun?
Die EU sollte auf Russland einwirken und zur Mäßigung aufrufen. Ich glaube allerdings nicht, dass ein Ende des Krieges in Syrien die durch Flucht und Migration entstehenden Herausforderungen unmittelbar entspannen würde. Auf Lesbos stammt die Mehrheit der neu hinzukommenden Geflüchteten zum Beispiel aus Afghanistan. Wir werden uns auch unabhängig von der Lage in Syrien weiter mit Flucht und Migration befassen müssen. Und umso mehr bedarf es einer konsistenten Politik dafür, die die Rechte und Würde aller Menschen achtet.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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Die politischen und militärischen Probleme in Syrien, Afghanistan und den Staaten Nordafrikas, wodurch große Fluchtbewegungen entstanden sind und entstehen werden, lassen sich nicht durch Migration nach Europa lösen.
Die momentane Lösung durch Migration für 100000 oder mehr, lösen die Probleme in Syrien, Afghanistan und den nordafrikanischen Staaten nicht!
Die einzig richtige strategische Lösung ist, den Flüchtlingen möglichst nahe an ihrer Heimat eine vorläufige sichere Bleibe zu geben. Nach Ende der politischen und militärischen Konflikte werden diese Menschen benötigt, um ihr Land wieder aufzubauen. Es gibt viele weitere Gründe die für sichere Fluchtorte nahe der Heimat sprechen. Das ist zu fördern.
Die EU muss friedensstiftend in den oben genannten Staaten aktiv werden.
Nach dem 2. Weltkrieg linderte der Marshallplan viel Not in Europa. Es ist das Gebot der Stunde mit einem vom Westen finanzierten „Marshallplan“ die Probleme vor Ort zu lösen. Gerd Müller, deutscher Entwicklungsminister gebar die Idee des Marshallplans für Afrika. Leider blieb es bei Zusagen, die nie eingelöst wurden.
https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/973428-Was-wurde-aus-dem-Marshall-Plan-fuer-Afrika.html

Ich bin aber noch immer überzeugt, dass ein Marshallplan sehr wichtig wäre.
Das Gute, das wir durch den Marshallplan empfangen haben, sollten wir den genannten notleidenden Ländern zurückgeben.
Über einen solchen Plan sollte längst mehr geschrieben und demonstriert werden. So schlimm die Situation auf griechischen Inseln und an der Grenze Griechenland/Türkei ist, so energisch muss an einem Marshallplan für die genannten Länder gearbeitet werden. Europa sollte und muss einen Marshallplan für die Krisengebiete schnüren.

Ich vermisse Lösungsansätze, die für beide Parteien, d.h. die Notleidenden sowie die EuropäerInnen, eine echte Lösung darstellen.

Joachim Atzwanger

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