„Wirklicher Wohlstand ist mehr als Wachstum“

Was macht ein gutes Leben aus? Wie lassen sich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt umwelt- und sozialverträglich gestalten? Welchen Stellenwert hat wirtschaftliches Wachstum für das Wohlergehen einer Gesellschaft? Mit Fragen wie diesen befasst sich seit einem Jahr eine Enquetekommission des Bundestags, der 17 Abgeordnete aller Fraktionen sowie 17 Sachverständige angehören. Ende 2013 soll die Kommission Empfehlungen abgeben. Die Vorsitzende Daniela Kolbe von der SPD-Fraktion zieht eine Zwischenbilanz.

Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität: Was verbinden Sie mit den drei Begriffen, die die Enquetekommission im Titel führt?

Vor allem jede Menge fruchtbarer Diskussionen. Wohlstand wird noch immer massiv mit wirtschaftlichem Wachstum assoziiert. Jetzt sehen wir, dass diese Gleichung nicht mehr haltbar ist, dass Wachstum und Wohlstand sogar in Widerspruch geraten. Das gilt für den Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit, aber es gilt auch in sozialer Hinsicht. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auf – auch hier in den Industrieländern.

Wie weit sind Sie im ersten Jahr Ihrer Arbeit gekommen?

Es besteht parteiübergreifender Konsens, dass wir eine alternative Wohlstandsmessung brauchen, um künftig vernünftige Politik zu machen. Die Tendenz geht momentan dahin, zusätzlich zum Bruttoinlandsprodukt nicht einen einzelnen zusätzlichen, sondern ein Set von Indikatoren zu entwickeln. Diese sollen Aspekte ökologischer Nachhaltigkeit, Lebensqualität und Verteilungsfragen umfassen und den BIP-Indikator ergänzen.

Wichtige Stimmen, etwa der Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker oder die Entwicklungsexpertin Inge Kaul, fordern, über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen, um die zentralen Entwicklungsprobleme zu lösen. Teilen Sie diese Auffassung?

Ich sehe diese Notwendigkeit auch. Wir leben auf einem gemeinsamen Globus, den wir schon jetzt ökologisch und sozial stark beanspruchen. Als früh industrialisiertes Land haben wir eine besondere globale Verantwortung. Zunächst müssen wir uns aber national vergewissern, was wir unter einem Wohlstand verstehen wollen, der sich nicht nur quantitativ über das BIP definiert. Zugleich sollen die neu zu entwickelnden Indikatoren natürlich auch internationalen Anforderungen genügen. Ressourceneffizienz und ein entsprechender Technologietransfer mit dem Ziel nachhaltigen Wachstums wären etwa zu nennen.

Viele Entwicklungsländer wären schon froh, wenn sie ein höheres BIP hätten. Andere Wohlstandsindikatoren – mehr Bildung, gerechtere Verteilung, mehr Ökologie, gar mehr Freizeit – erscheinen ihnen eher nachrangig, wenn nicht gar als Luxus. Ist wirtschaftliches Wachstum nicht tatsächlich eine notwendige Bedingung?

Das Glücksempfinden, die Zufriedenheit der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern steigt mit wachsendem BIP. Das ist ja auch plausibel, wenn es vorrangig darum geht, genug zu essen zu haben, eine ordentliche Behausung, ordentliche Kleidung. Dennoch sollte man etwa die Frage gerechter Verteilung in diesen Ländern nicht unterbewerten. Und in höher entwickelten Staaten wächst im Übrigen das Glücksempfinden nicht mehr automatisch mit dem BIP.

Sind Sozialstaatsmodelle nach europäischem Muster die beste Wahl auch für die Entwicklungsländer? China nimmt unter straff autoritärer Führung derzeit eine besonders steile Entwicklung.

Das Beispiel China zeigt in der Tat: Man braucht Demokratie offenbar nicht unbedingt, um wirtschaftliche Entwicklung hinzubekommen. Als Demokratin wünsche ich mir allerdings, dass möglichst viele Menschen auch die Möglichkeit haben, ihre Gesellschaft mitzugestalten. Und wie lange sich die wachsende Mittelschicht in China von der KP noch alles aufoktroyieren lässt, wird man sehen. Mit wachsendem materiellem Wohlstand werden eben auch andere Aspekte als bloße Existenzsicherung immer wichtiger.

Der Ökonom Meinhard Miegel, der auch Sachverständiger in der Enquetekommission ist, hat ein „Wohlstandsquartett“ präsentiert. Es besteht aus dem BIP, der Einkommensverteilung, der gesellschaftlichen Ausgrenzungsquote und dem ökologischen Fußabdruck. Inzwischen ist die Schuldenquote dazugekommen. Sind das die entscheidenden Parameter für eine nachhaltige und gesellschaftliche Zufriedenheit schaffende Entwicklung?

Das ursprüngliche Quartett geht in eine interessante Richtung, die Schuldenquote würde ich draußen lassen. Ich bezweifle jedoch, dass man das alles in jeweils nur einen Indikator fassen kann. Nachhaltigkeit ist mehr als der ökologische Fußabdruck, zum Beispiel auch Biodiversität; gesellschaftlicher Zusammenhalt ist mehr als eine Ausgrenzungsquote. Aber das Quartett ist es auf jeden Fall wert, diskutiert zu werden, und das tun wir auch.

Ein Jahr der Enquete-Arbeit ist um; bis jetzt bleibt alles noch stark im Theoretischen.

Das wird sich ändern. Zwei Projektgruppen werden in Kürze Abschlussberichte vorlegen, so zur Bedeutung von Wachstum für Gesellschaft und Wirtschaft und zur Frage, wie sich Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln lassen. Ganz konkret wird es dann bei den Themen Arbeitswelt und Lebensstile, ordnungs- und steuerpolitische Möglichkeiten und nachhaltiges Wirtschaften. Vorwegnehmen möchte ich jetzt aber nichts. Manches wird auch noch sehr kontrovers diskutiert.

Geben Sie Ernst Ulrich von Weizsäcker Recht, wenn er sagt, Politik müsse verloren gegangene Gestaltungsmacht zurückgewinnen?

Da stimme ich ihm absolut zu. Die Politik hat sich zu sehr darauf reduzieren lassen, für Wachstum zu sorgen. Wirklicher Wohlstand ist aber mehr als das. Und die Debatte darüber, wie wir dazu gelangen, brauchen wir dringend – und führen sie ja jetzt auch intensiv.

Das Gespräch führte Johannes Schradi.


Daniela Kolbe,
SPD-Abgeordnete aus Leipzig, ist Vorsitzende der Bundestagsenquete zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität.

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