Von Brasilien lernen

Lunae Parracho/Reuters
Indigene nehmen den Waldschutz selbst in die Hand: Ein Ka‘apor hat 2014 die Säge eines Holzfällers beschlagnahmt, der im Gebiet seines Volkes Holz schlagen wollte.
Schutzgebiete
In Brasilien wird so viel Wald beseitigt wie nirgends sonst. Doch fast die Hälfte des Amazonas­regenwaldes ist als Schutz­gebiet deklariert, darüber kann sich auch Präsident Bolsonaro nicht einfach hinweg­setzen.

Es gibt in der internationalen Klima- und Waldpolitik kaum etwas Deprimierenderes als die Entwicklung bei den tropischen Wäldern im vergangenen Jahrzehnt, also von 2010 bis 2019. Spätestens seit der Klimakonferenz von 2008 im polnischen Posznan war der Schutz von Wäldern zu einem zentralen Pfeiler der globalen Klimapolitik geworden. REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation, also Emissionen aus Entwaldung und der Degradierung von Wäldern verringern) hieß die Zauberformel: Sie versprach dem Waldschutz neue Impulse und vor allem viel Geld. 

Es wurde zu einem globalen Konsens, dass wir unsere Klimaziele nur erreichen können, wenn wir die Wälder erhalten, insbesondere in den Tropen. Mehr noch: Dies galt als die tiefhängende Frucht, also leicht zu machen und relativ kostengünstig. Um Entwaldung zu reduzieren, braucht es keine komplizierte Technik, und der volkswirtschaftliche Nutzen der Entwaldung ist in den meisten Waldländern durchaus begrenzt und kann deshalb auch mit internationaler Unterstützung ausgeglichen werden. Hinzu kam noch, dass auch die Aufmerksamkeit für den Verlust von Biodiversität wuchs und damit die Bedeutung der tropischen Regenwälder noch stärker ins Bewusstsein rückte.

Der größte Entwalder ist Brasilien

Aber am Ende der Dekade ist die Bilanz trostlos. Auch wenn die Statistiken schwanken, im besten Fall ist die Entwaldung nicht angestiegen. Dies kann nun leicht den Eindruck erwecken, diese sei so etwas wie eine Naturgewalt – gefährlich, aber kaum zu bremsen. Aber trotz der schlechten Gesamtbilanz gibt es einige Erfolge, von denen sich lernen lässt: Die Entwaldung zu verringern ist möglich, wenn der politische Wille vorhanden ist. 

Das zeigt gerade der Fall Brasilien. Nicht zufällig hat in der internationalen Waldpolitik das Amazonasgebiet einen besonderen Stellenwert. Brasilien war und bleibt der größte Entwalder und ist auch 2018 allein für etwa ein Drittel der globalen Entwaldung in tropischen Primärwäldern verantwortlich. Aber es ist auch ein demokratisch regiertes Land mit einer aktiven und organisierten Zivilgesellschaft. Daher waren hier die Bedingungen für internationale Kooperation gut. Und so war es verständlich, dass sich das bis dahin größte internationale Tropenwaldprogramm Anfang der 1990er Jahre auf Brasilien konzentrierte. 

Im „Pilotprogramm zur Bewahrung der tropischen Regenwälder in Brasilien“, abgekürzt PPG7, fand sich eine bemerkenswerte, von der Weltbank koordinierte Koalition zusammen. Mit Abstand größter Geber war Deutschland. Der damalige Kanzler Helmut Kohl hatte sich aktiv für das Programm eingesetzt. Eine wichtige Komponente des PPG7 war die Unterstützung der brasilianischen Regierung bei der Demarkierung und legalen Absicherung indigener Gebiete. Dass dies im Kontext eines internationalen Programms überhaupt geschehen konnte, war eine Sensation, hatte doch Brasilien bis dahin jegliche internationale Kooperation, die indigene Völker einschließt, als Gefahr für seine Souveränität gesehen. 

Die Offenheit für internationale Zusammenarbeit und für das zentrale Ziel des Programms, die Entwaldung zu verringern, beschränkten sich in der brasilianischen Regierung auf das Umweltministerium und die für indigene Fragen zuständige Behörde im Justizministerium. Diese aber gewann an Einfluss und Bedeutung, denn sie wurde für weite Teile des brasilianischen Territoriums zuständig. Heute machen indigene Territorien und Schutzgebiete fast die Hälfte des brasilianischen Amazonasgebietes aus. Schutzgebiete sollen vorhandene Ökosysteme bewahren, erlauben dort aber inzwischen mit wenigen Ausnahmen, dass traditionelle Gemeinschaften dort leben und die natürlichen Ressourcen nutzen. 

Ein Laboratorium mit Beteiligung der Zivilgesellschaft

Im Rahmen des PPG7 wurden Konzepte für Schutzgebiete mit der Beteiligung der lokalen Bevölkerung erprobt, Kleinprojekte für nachhaltige Nutzung gefördert und Umweltbehörden in den Bundesstaaten gestärkt. Unter aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft entstand ein großes Laboratorium für neue Erfahrungen in Schutz und nachhaltiger Nutzung des Tropenwaldes. Aber das Ergebnis war frustrierend. Die Entwaldungsraten wollten nicht sinken und 2004 explodierten sie geradezu. 

Präsident Lula da Silva und Umweltministerin Marina Silva unterzeichnen Ende 2006 ein Dekret zum Schutz der Wälder an der Atlantik­küste. Lulas Regierung hat den Waldverlust stark gebremst.

Dabei hatte die Regierung des linken Präsidenten Lula da Silva, die 2003 ins Amt gekommen war, große Erwartungen geweckt. Lula hatte gleich nach seiner Wahl die international bekannte Umweltaktivistin Marina Silva zur Ministerin ernannt. Die starke Entwaldung wurde nun auch ein Problem für das internationale Image Brasiliens und seines Präsidenten. Und so begann 2005 eine Erfolgsgeschichte im Waldschutz, die wohl einmalig ist. Von dem horrenden Wert von 27.722 Quadratkilometern im Jahre 2004 sank der jährliche Waldverlust auf 7464 Quadratkilometer im Jahre 2009 und erreichte 2012 mit 4571 Quadratkilometern einen historischen Tiefstwert.

Verschärfte Kontrollen der illegalen Entwaldung

Wie war das möglich? Grundlegende Voraussetzung war, dass die Entwaldung zu verringern zur politischen Priorität wurde und viele Aktionen im Präsidialamt koordiniert wurden. Damit erhielten sie eine andere Durchschlagskraft als Aktionen des Umweltministeriums. Einzelne Maßnahmen wurden zu einem Plan für die Verhinderung von Entwaldung am Amazonas zusammengefasst. Dessen Erfolg beruhte zum einen auf verschärften Kontrollen der illegalen Entwaldung, auch durch spektakuläre Aktionen der Umweltbehörde, wie der Beschlagnahmung von illegal eingeschlagenen Baumstämmen in Begleitung von Fernsehteams.

Grundlegend war zum anderen die Ausdehnung der Schutzgebiete. Sie wurden zwischen 2002 und 2010 um knapp 700.000 Quadratkilometer erweitert, fast das Doppelte der Fläche Deutschlands. Auch wenn viele nur auf dem Papier standen, bremsten sie doch das Vordringen von Landwirtschaft und Viehzucht in den Wald.

Autor

Thomas Fatheuer

ist Sozialwissenschaftler und lebt als freier Autor und Berater in Berlin. Er hat von 1992 bis 2010 in Brasilien gelebt und dort seit 2003 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet.
Aber noch etwas war wichtig für den Erfolg des Plans: Naturschutzgebiete wurden nicht mehr ohne die dort lebenden Menschen geplant. Schon zuvor waren auch durch den Kampf der lokalen Bevölkerung Schutzgebiete geschaffen worden, die nicht nur den Regenwald, sondern auch seine traditionellen Bewohnerinnen und Bewohner und deren Wirtschaftsweise bewahren sollten. Berühmt wurde der Kampf der Kautschukzapfer und ihres Vorkämpfers Chico Mendes für die Einrichtung sogenannter Sammelreservate. Chico Mendes wurde 1988 ermordet, seine Mitkämpferin Marina Silva wurde 2003 Umweltministerin. Schutzgebiete werden nun von der lokalen Bevölkerung nicht mehr als Bedrohung angesehen, sondern als Schutz gegen Landraub und illegalen Holzeinschlag.

Der Plan gegen die Entwaldung wurde auch deshalb zu einer Erfolgsgeschichte, weil es kein Programm der internationalen Kooperation war, sondern ein nationales. Dass die Regierung es sich zu eigen macht (ownership), ist offensichtlich ein wichtiges Element, um Entwaldung zu verringern. Dennoch hatte auch die internationale Zusammenarbeit einen gewissen Anteil am Erfolg: Aus dem PPG7 lagen Erfahrungen vor, die nun in Politik eingespeist werden konnten, es war eine kritische Masse von Fachleuten ausgebildet worden und die Zivilgesellschaft hatte für Waldschutz mobilisiert.

Diese Erfolgsbedingungen zeigen schon, warum nach 2012 die Entwaldung wieder angestiegen und unter der Regierung Bolsonaro die Erfolge der Vergangenheit gefährdet sind. Denn eine der Lehren des Erfolges ist, dass Waldschutz von der Durchsetzung rechtsstaatlicher Normen abhängt oder, wie es oft heißt, von guter Regierungsführung. Dies ist natürlich immer nur ein Ziel und kein vollständig erreichbarer Zustand. Aber Präsident Jair Bolsonaro hat sich von diesem Ziel deutlich verabschiedet.

Für seine seit 2019 amtierende Regierung ist es kein Ziel, die Entwaldung zu verringern. Umweltschutz war für ihn immer ein Feindbild. Er hat in den ersten zwei Jahren seiner Regierung systematisch die Umweltbehörden abgebaut und die höheren Posten dort mit Militärs besetzt. Das Ergebnis ist eindeutig: die Entwaldungsraten steigen wieder an. Der Waldverlust lag 2019/20 fast doppelt so hoch wie 2014. Während aber die Entwaldung in der Vergangenheit Ausdruck von Regierungsversagen war, ist es nun ein perverser Erfolg der Regierungspolitik. 

Die Wende in der Waldpolitik unter Bolsonaro ist nicht einfach das Resultat seiner persönlichen Manie. Er vertritt die gesellschaftlichen Kräfte, die wie das Agrobusiness und die Militärs die Erschließung des Amazonasgebiets für Landwirtschaft, Viehzucht, Bergbau, Staudämme und Straßen nach wie vor mit Entwicklung und Fortschritt gleichsetzen. Der Erhalt des Waldes ist und bleibt umkämpft: Wo die einen artenreichen Wald und den Lebensraum indigener Völker sehen, sehen die andern Land, sehr viel Land, dessen Nutzung von unproduktivem Wald behindert wird.

Eine gigantische Fläche steht unter Schutz

Ist nun durch den Regierungswechsel in Brasilien gleich alles verloren? Nein. Dies ist eine weitere wichtige Lektion aus den Erfahrungen dort. Etwa 45 Prozent des brasilianischen Amazonasgebiets sind indigene Territorien und Schutzgebiete. Eine gigantische Fläche steht also unter Schutz: etwa sechsmal die Fläche Deutschlands. Die indigenen Gebiete sind von der Verfassung geschützt und die Naturschutzgebiete durch Gesetze abgesichert. Bolsonaro ist es bisher nicht gelungen, dies rückgängig zu machen. Zwar hat die Bedrohung der Gebiete durch eindringende Goldsucher und illegalen Holzeinschlag dramatisch zugenommen, aber sie haben nicht völlig ihre Schutzfunktionen verloren. 

Dies hat einen einfachen Grund. In Schutzgebieten und indigenen Territorien sind die Eigentumsverhältnisse klar: Privater Besitz an Land ist nicht möglich. Dies verhindert zumindest Landraub im großen Stil. Viele Studien haben diesen Effekt gezeigt. Laut einer 2020 veröffentlichten Studie ist die Entwaldung in indigenen Territorien um zwei Drittel geringer als in nicht geschützten Gebieten. Genau diese Errungenschaften sind unter Bolsonaro gefährdet. Tatsächlich ist auch in geschützten Gebieten die Entwaldung in den letzten zwei Jahren angestiegen. Aber noch bestehen diese Gebiete, und die indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften kämpfen zusammen um ihre Erhaltung unter dem Banner „Verteidigung der Territorien“.

Daraus ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen für den Waldschutz: Schutzgebiete unter Einbeziehung ihrer Bevölkerung sind möglich. Und sie können ein wichtiger Faktor für die Garantie von Rechten wie für den Erhalt des Waldes sein. Dies zeigt die brasilianische Erfahrung eindrucksvoll. Aber diese Gebiete brauchen Schutz und Unterstützung.

Raimundo Pereira zapft 2014 ­Kautschuksaft in Acre. In dieser Provinz im Nordwesten Brasiliens haben Kautschukzapfer wie Chico Mendes in den 1980er Jahren den Kampf für Waldschutz begonnen.

Wie hat nun die hoffnungsvoll begonnene Liaison zwischen Klima- und Waldschutz das Auf und Ab der Entwaldung in Brasilien beeinflusst? Er hat die hohen Erwartungen nicht erfüllt, obwohl inzwischen unter dem Label REDD+ viel Geld in das Amazonasgebiet geflossen ist. So ist der Amazonasfonds, hauptsächlich von Norwegen, aber auch Deutschland finanziert, mit über einer Milliarde Euro Fördervolumen der größte Waldfonds weltweit. 

Wälder und Schutzgebiete sind keine Handelsware

Auch wenn der REDD-Mechanismus in das Pariser Klimaabkommen aufgenommen wurde – die Ergebnisse sind nicht nur frustrierend, sondern auch bedenklich. REDD war an die Erwartung geknüpft, enorme Geldmittel aus dem privaten Sektor für Waldschutz zu mobilisieren. Waldschutz sollte mit Hilfe der Kompensation für Treibhausgas-Emissionen profitabel werden: Emittenten im Norden sollten dafür zahlen, dass geschützter Wald Kohlendoxid aufnimmt, und damit das Recht erhalten, selbst weiter zu emittieren. Ein Beispiel ist der Flugverkehr: Fluggesellschaften wollen weiterwachsen und dabei den Anstieg ihrer Emissionen kompensieren. 

Aber tropische Wälder und Schutzgebiete in eine Handelsware zu verwandeln, ist schwierig. Bisher existiert kein relevanter globaler Markt, der Waldzertifikate einschließt. Und die Einrichtung eines solchen Marktes stößt auf Kritik: Insbesondere die Lebensräume indigener Völker und ihre Funktion für das Klima sollten keine Handelsware sein. Strategien für Schutzgebiete sind immer auch Strategien für Lebensräume, und die können und dürfen nicht einer kommerziellen Logik unterworfen werden. 

Zudem sind REDD-Programme daran geknüpft, laufende und absehbare Entwaldung zu verringern oder naturnahen Wald wiederherzustellen. Aber was ist mit Gebieten, in denen gar nicht oder nur wenig entwaldet wird – sollen die leer ausgehen? Mehr Geld für Schutzgebiete ist notwendig, aber es sollte nicht an einen Handel mit Kohlendioxid und Emissionsrechten geknüpft sein, sondern aus öffentlichen Mitteln kommen. Angesicht der fortgeschrittenen Erderwärmung sollte in der internationalen Klimapolitik sowieso kein Platz mehr sein für die Kompensation von Emissionen, die ein „Weiter so“ im Norden begünstigt.

Für den Waldschutz ist die Perspektive damit gut und schlecht zugleich. Er ist in gewisser Weise das Einfache, das schwer zu machen ist. Es fehlt nicht an Rezepten, Ideen und Erfahrungen, sondern am politischen Willen und an der Durchsetzungskraft gegen mächtige Interessengruppen – und vielleicht auch manchmal an der Beharrlichkeit, Bewährtes wie die Sicherung von indigenen Territorien und Schutzgebieten weiterzuverfolgen.

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