Gustav Adolf Sonnenhol / Rainer Barthelt Die Dritte Welt – Mythos und Wirklichkeit Bouvier Verlag, Bonn 2007, 197 Seiten, 19,90 Euro
Gustav Adolf Sonnenhol, Jahrgang 1912 und in jungen Jahren wie viele ein engagierter Nationalsozialist, wurde damals in den auswärtigen Dienst aufgenommen. Nach dem Krieg vertrat er die Bundesrepublik unter anderem als Botschafter im Südafrika der Apartheid und in der Türkei. Im Bundesentwicklungsministerium (BMZ) war er sechs Jahre als Abteilungsleiter tätig. Rainer Barthelt, ebenfalls langjähriger BMZ-Mitarbeiter, hat aus den Aufsätzen und Papieren des Botschafters, der 1988 starb, diesen Band zusammengestellt und durch eigene Beiträge ergänzt.
Die Autoren wollen primär mit den Mythen aufräumen, die nach ihrer Meinung den Realitätssinn und die Wirkung der Entwicklungspolitik beeinträchtigen. Gewiss kennt die Entwicklungspolitik solche Mythen. Aber man sollte doch vorsichtig sein mit dem Urteil über andere Sichtweisen und Meinungen. Das befolgen die Autoren nicht immer. Sie geißeln „Utopismus“ und „Drittweltismus“,„Hungerhysterie“ der Medien,„Weltbeglückungsideologie“ und „Machbarkeitswahn“ in der Entwicklungshilfe, die „guten Hirten“ in der SPD und die „Bastlendenschurz-Romantik“ der Grünen – leider ohne näher zu erläutern,was sie damit meinen. Den prägenden Einfluss der Minister Erhard Eppler und Hans-Jürgen Wischnewski stellen Sonnenhol und Barthelt nicht dar. Viele ihrer kritischen Anmerkungen gelten Willy Brandt und seinen Berichten zur Nord-Süd-Politik. Sonnenhol und Barthelt sehen in den Brandt-Utopien den Versuch,„uns ein schlechtes Gewissen zu machen und apokalyptische Furcht einzuflößen“.
Die Autoren haben durchaus eine klare Vorstellung von den Übeln, mit denen es die Entwicklungspolitik zu tun hat. Aber sie halten sich für nüchterne Realisten, die wissen: „Unser Wohlfahrtsstaat und unsere Lebensstandardwünsche sind der Hauptkonkurrent, wenn nicht der Feind der Dritten Welt.“ Zum Hungerproblem schreiben sie, mit diesem „sowohl Vernunft wie Moral revoltierenden Zustand“ müssten wir wohl noch lange leben,weil das technisch Machbare „noch lange nicht das Menschenmögliche“ sei. Die Vorstellungen einer Weltinnenpolitik und eines kategorischen Imperativs des Lebens und Wirtschaftens, der der gesamten Menschheit ein Leben in Würde ermöglichen könnte, sind für sie visionärer Utopismus, der lediglich falsche Erwartungen weckt.
Dabei befürworten die Autoren die Entwicklungszusammenarbeit generell, fordern aber härtere Vergabekonditionen. Schon 1964 bedauerte Sonnenhol in einem Interview, dass es nicht gelungen sei, die Bedingungen des Marshallplans, insbesondere die Kontrolle der Mittelverwendung, auf die Entwicklungshilfe zu übertragen. In den Schlusskapiteln lobt Barthelt dann aber die derzeitigen BMZ-Vergabekriterien und die international koordinierte Afrikahilfe.
Über Wertungen und Deutungen kann man sicher streiten. Zum Beispiel darüber, ob die Befreiung in Afrika wirklich zu früh kam, wie Sonnenhol und Barthelt „heute zu wissen glauben“. Sonnenhols kritische Einstellung zu den Vereinten Nationen war im BMZ damals nicht ungewöhnlich. Faktisch falsch ist allerdings, dass Ché Guevara von Bauern in den Anden umgebracht worden sei. Man braucht nicht nach Kuba zu reisen oder Verschwörungstheorien anzuhängen, um das genauer zu wissen.
Das Buch ist ein beachtliches Zeitzeugnis der Bemühungen und Mythen aus den Anfängen der Entwicklungspolitik in der Nachkriegszeit. Sollte man es lesen, auch wenn man nicht zu den Betroffenen gehört? Das muss jeder selbst wissen. Aber irgendwie sind wir ja alle betroffen.
Manfred Kulessa
welt-sichten 1-2008