Wut auf die eigenen Führer

Einige Mitglieder der Tigray-Friedenstruppen. Rechts sitzt Shewit Bitew, der an der Gründung beteiligt war. Der Zweite von rechts ist Henok Tesfay, ein ehemaliges Mitglied der TDF.
Tigray
In Äthiopien wollen junge Tigrayer die Regierung der eigenen Region stürzen – stillschweigend unterstützt von der Zentralregierung. Das droht den Ende 2022 beendeten Krieg neu zu entfachen. Wer sind die neuen Rebellen der Tigray-Friedenskräfte?

„Überall sind Soldaten, auch wenn man sie nicht sieht”, sagt Shewit Bitew. Auf einem Hügel in der Region Afar im Nordosten Äthiopiens, deren Boden von der sengenden Sonne ausgetrocknet ist, zeigt der 30-Jährige auf blaue Planen unterhalb. Unter jeder sind eine Handvoll Männer, vereinzelt auch Frauen. Einige tragen Hosen, T-Shirts oder Jacken in Tarnfarben, andere sind komplett in Zivil gekleidet. Die extreme Hitze macht es unmöglich, zu trainieren oder sich körperlich zu betätigen. Also warten die Kämpfer geduldig im Schatten und denken an ihre Fußballspiele morgens und abends. „Wir organisieren ein Turnier zwischen den verschiedenen Regimentern“, erklärt Shewit Bitew ganz ernst.

Er ist ein früherer Funktionär einer Oppositionsbewegung in der benachbarten Region Tigray; sein Vater gehörte zur Führung der dort dominierenden Tigray People's Liberation Front (TPLF). Im März 2025 war Bitew an der Gründung der neuen bewaffneten Gruppe beteiligt, die schnell als Tigray-Friedenstruppen (Tigray Peace Forces) bekannt wurde. Die meisten Mitglieder sind ehemalige Soldaten der Tigray-Verteidigungskräfte (Tigray Defense Forces, TDF), jener Armee der TPLF, die zu Beginn des Krieges zwischen der Regierung der Region Tigray und der Zentralregierung im November 2020 formiert wurde. Seit März sind mehrere hundert in die benachbarte Region Afar gezogen und haben die neue Gruppe gegründet.

Der Krieg endete im November 2022 mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Pretoria. Es brachte die Waffen zum Schweigen, aber die Umsetzung wichtiger Bestimmungen lässt auf sich warten: Mehr als eine Million intern Vertriebene und Zehntausende Flüchtlinge konnten noch immer nicht in ihre Heimat zurückkehren. Weite Gebiete bleiben besetzt – im Westen Tigrays von Kämpfern der Region Amhara, im Nordosten hat sich die Armee Eritreas niedergelassen. Obwohl laut Friedensvertrag die Bundesbehörden in Addis Abeba dafür zuständig sind, die Rückkehr der Vertriebenen zu organisieren, hat die Verzögerung die bereits zuvor bestehenden Spannungen in den tigrayischen Eliten verschärft, insbesondere zwischen der TPLF und ihrem eigenen bewaffneten Arm, den TDF.

Die Eliten in Tigray streiten untereinander

„Während des Krieges sollten wir die besetzten Gebiete im Westen und Norden zurückerobern“, erklärt Henok Tesfay, ein ehemaliges Mitglied dieser TDF. „Aber unsere Anführer verhafteten uns, wenn wir die kleinste Frage stellten. Ihr einziges Interesse war, auf Addis Abeba vorzurücken und die Macht dort zurückzuerobern.“ Die TPLF hatte Äthiopien 27 Jahre mit eiserner Hand regiert, bis sie 2018 infolge einer Volksbewegung verdrängt wurde, die den derzeitigen Premierminister Abiy Ahmed an die Macht brachte. „Nach dem Abkommen von Pretoria sagten uns die Obersten und Generäle, wir wären nun Soldaten der TPLF. Aber wir hatten nicht für die TPLF gekämpft, sondern um die Bevölkerung von Tigray zu verteidigen“, sagt Henok Tesfay. Drei Geschosse haben ihn an den Armen verletzt. 

Laut dem jungen Mann haben sich diese Praktiken geändert, seit Abiy Ahmed im März 2023 Getachew Reda zum Präsidenten jener Übergangsverwaltung von Tigray ernannt hat, die im Zuge des Waffenstillstands eingerichtet wurde. „Früher wurden wir systematisch schikaniert, geschlagen und sogar getötet, wenn wir friedlich demonstrierten. Deshalb verlassen viele junge Menschen Tigray und gehen nach Libyen oder in die Golfstaaten“, erzählt Henok Tesfay. „Als Getachew kam, hat er gezeigt, dass es anders geht. Er hat keine willkürlichen Verhaftungen vorgenommen und uns erlaubt, uns frei zu äußern.“ 

Doch Mitte März 2025 hat der Vorsitzende der TPLF, Debretsion Gebremichael, die Ablösung von Getachew Redas Vertrauten in den Rathäusern mehrerer Städte eingefädelt, darunter in Mekele, der Hauptstadt von Tigray. Getachew Reda ist nach Addis Abeba geflohen, seine Anhänger wurden hart unterdrückt. „Mitglieder der TPLF brachten uns aus der Stadt, schlugen uns und drohten, uns zu töten“, erinnert sich Kahsay Kidane. Der 42-jährige Mathematiklehrer ging nach diesem Gewalterlebnis ebenfalls in den Untergrund. 

In der Folge haben sich mehrere hundert Personen der neuen Rebellion der Tigray-Friedenskräfte angeschlossen. Ihre Anführer weigern sich aber, genaue Zahlen zu nennen. Die Mehrheit hat in Afar Quartier bezogen und bildet laut Shewit Bitew, der eine Basis in der Nähe der Stadt Lakora 110 Kilometer östlich von Mekele anführt, zwei „Fronten“. Eine dritte Gruppe von Soldaten sitzt unweit der Stadt Shire an der Grenze zu den besetzten Gebieten im Westen Tigrays. 

Die Rebellen bereiten den Vormarsch vor

Von diesen abgelegenen Gebieten aus bereiten die Rebellen vor, was sie als stille Revolution bezeichnen. „Wir werden bis Ende des Jahres die Kontrolle über Tigray übernehmen”, sagt Shewit Bitew. Nach dem äthiopischen Kalender bedeutet dies, dass die Tigray-Friedenskräfte spätestens am 10. September in Tigray einmarschieren – oder es befreien, je nach Sichtweise. Bereits am 29. Juni, zwei Wochen nach unserem Treffen, begannen die in Afar stationierten Truppen nach Tigray vorzudringen, was vermuten lässt, dass eine Offensive bevorstand.

Seit dem Ende des Krieges sind zu historischen Ressentiments und gegensätzlichen Ansichten über die militärische Strategie noch Vorwürfe wegen Schmuggel und Korruption hinzugekommen. „Die Mitglieder der TPLF haben die während der Kämpfe gestohlenen Gegenstände zu Geld gemacht. Wir konnten nichts sagen, weil wir mitten im Krieg standen. Nach Unterzeichnung des Friedensvertrags haben sie sich auf die Gold- und Kupferminen gestürzt“, beklagt Shewit Bitew. Die Schwächung der Lokalbehörden während der Kämpfe ermöglicht es Goldwäschern nun, offen tätig zu sein – in Zusammenarbeit mit den politischen Verantwortlichen der TPLF und den militärischen Führern ihrer TDF.

Gegen die mächtige Partei genieße er die stillschweigende Unterstützung seiner ehemaligen Kameraden aus den TDF, versichert der erfahrene Politiker Shewit Bitew. Von deren 270.000 Mitgliedern, die zum Zeitpunkt des Waffenstillstands registriert wurden, sollen weniger als 20.000 noch aktiv sein. 

Nur wenige erhielten die versprochene Entschädigung

„Die TDF ist eine Widerstandsgruppe, der wir damals beigetreten sind, weil wir keine andere Wahl hatten“, betont ein Wissenschaftler, der selbst während des Krieges Soldat war und aus Sicherheitsgründen anonym bleibt. „Es ist keine Armee, die wie die äthiopischen Nationalen Verteidigungskräfte ausgebildet wäre. Die TDF haben keine festen politischen Ziele.“ Viele Bauern, Händler, Lehrer und Studenten, aus denen sich diese Truppe zusammensetzte, haben nach Kriegsende ihre Reihen verlassen. Die meisten warten noch immer auf die 90.000 Birr (etwa 600 Euro) Entschädigung, die ihnen im Rahmen des verzögerten Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Rehabilitationsprozesses zugesagt wurden. Nur gut 48.000 frühere Mitglieder, weniger als ein Fünftel der Truppen, hatte Ende Juni 2025 davon profitiert.

„Wer bei den TDF bleibt, ist mit den militärischen Entscheidungen unzufrieden“, berichtet der Forscher. „Viele können nicht nach Hause zurück, weil ihre Häuser zerstört sind oder in besetzten Gebieten liegen. Von manchen sind die Angehörigen getötet worden. Sie haben jede Hoffnung verloren. Einige sind in Drogen oder Alkohol abgerutscht.“ Er hält es für wahrscheinlich, dass ein Teil dieser ehemaligen Kämpfer tatsächlich die Tigray-Friedenskräfte unterstützt. Jeden Tag treffen neue Rekruten in den Bergen von Afar ein.

"Die Lösung liegt in Frieden und Ideen"

Die etwa zehn Soldaten, die ich in Anwesenheit ihres Kommandanten Shewit Bitew sprechen kann, zeigen sich sehr engagiert. Die 29-jährige Genet Weldeslassie sitzt in einem einfachen bunten Kleid unter einer Plane und beschreibt selbstbewusst ihre Beweggründe. „Ich habe Mütter gesehen, die in Not waren, nachdem sie ihre Kinder im Kampf verloren hatten. Wenn die noch am Leben wären, könnten die ihnen helfen. Die TPLF hat diesen Müttern nicht einmal ihr Beileid ausgesprochen“, klagt die frühere Polizistin, die ihre beiden Kinder im Alter von vier und zwei Jahren in Mekele zurückgelassen hat. „Die Priorität ist jetzt, das Regime zu ändern. Dann wollen wir zeigen, dass es möglich ist, auch ohne Gewalt zu regieren. Die Lösung liegt nicht in Krieg, sondern in Frieden und Ideen“, fährt sie fort.

Die Bewaffneten wirken entschlossen. Ihr Aufbruch in die Wüstenhügel von Afar hat dennoch nichts von einem ehrenamtlichen Einsatz: Jedes Mitglied der Tigray-Friedenskräfte erhält 6400 Birr pro Monat (etwa 40 Euro), das ist mehr als die Vergütung vieler Beamter. Zudem ist die Arbeitslosigkeit seit Kriegsende sprunghaft angestiegen. Acht von zehn Jugendlichen sind laut der Jugendvereinigung von Tigray arbeitslos. 

Shewit Bitew versichert, dass diese Gehälter größtenteils von der Diaspora bezahlt werden; der Beitrag der Zentralregierung sei vernachlässigbar und beschränke sich fast nur auf die Lieferung von Militärrationen. „Die Tigray-Friedenskräfte werden von der Zentralregierung ausgebildet, bezahlt und logistisch unterstützt“, widerspricht der Wissenschaftler. „Addis Abeba wird sie im Falle eines neuen Krieges mit Eritrea einsetzen.“

Abiy Ahmed strebt nach einem Meerzugang für sein Land

Der Forscher betont, Premierminister Abiy Ahmed müsse Spaltungen in der Region aufrechterhalten, seit die von Debretsion Gebremichael angeführte TPLF-Fraktion sich an Eritrea annähert – eine Kehrtwende, war doch Asmara, die Hauptstadt Eritreas, während des Krieges bis 2022 ein Verbündeter von Addis Abeba. Die Monate zuvor aufgenommenen Kontakte zwischen tigrayischen und eritreischen Politikern haben am 21. Juni 2025 zur Wiederöffnung der Grenze zwischen beiden Ländern geführt – eine Premiere seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2020. Mehreren Beobachtern zufolge bereitet Abiy Ahmed seinerseits eine Offensive vor, um den Hafen von Assab in Eritrea zurückzuerobern, den Äthiopien 1993 mit der Unabhängigkeit Eritreas verloren hat. Der starke Mann Äthiopiens träumt von einem Meerzugang für sein Land, vor allem aber will er dort einen Marinestützpunkt errichten. 

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In Mekele lässt sich niemand darüber täuschen, dass die Tigray-Friedenskräfte von der Zentralregierung instrumentalisiert werden. Am Rande einer Demonstration für die Rückkehr der Vertriebenen Mitte Juni auf dem Romanat-Platz mitten in der Regionalhauptstadt Mekele schwenkt Temesgen Mebrie, ein ehemaliger Soldat der TDF, der im Flüchtlingslager Seba Kare etwa zehn Autominuten von Mekele entfernt lebt, die rot-gelbe Flagge von Tigray. „Ich habe einen Freund, der Teil der Tigray-Friedenskräfte in Afar war“, sagt er. „Er war wegen des Gehalts hingegangen, kam aber schließlich zurück, als er begriff, dass das eigentliche Ziel ist, Tigray zu zerstören.“

Die neue Truppe hat schließlich auch die politische Unterstützung der Partei Semeret („Solidarität“ auf Tigrinya), die Anhänger von Getachew Reda Mitte des Jahres in Addis Abeba gegründet haben. „Wir unterstützen ihre Ziele, auch wenn sie nichts mit Semeret zu tun haben“, sagt Redae Halefom, der Sprecher der Partei. „Ihre Träume stimmen insoweit mit denen des Volkes von Tigray überein, als sie weiteres Blutvergießen vermeiden wollen.“

In Afar relativieren die Verantwortlichen der Tigray-Friedenskräfte diese Äußerungen. „In den nächsten Wochen könnte die TPLF freiwillig die Macht abgeben. Sonst werden wir sie mit Hilfe der Zentralregierung zum Rücktritt zwingen“, warnt der 29-jährige Yohanes Wolday. „Natürlich macht mir das Angst, denn die Menschen in Tigray haben noch nicht ihre Wunden verbinden können. Wir möchten sie nicht erneut in einen Krieg stürzen, aber wir haben keine andere Wahl...“ Sein Vorgesetzter, Shewit Bitew, ergänzt: „Wir können hundert Menschen opfern, um Millionen zu retten.“ Der junge Vater gesteht indes ein, dass er von einer Zukunft ohne Kämpfe für seine acht Monate alte Tochter träumt.

Augustine Passilly ist Journalistin und schreibt über das Horn von Afrika und den Sudan. Der Artikel ist zuerst französisch auf der Plattform afriquexxi.info erschienen. 

Aus dem Französischen von Bernd Ludermann.

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