Indien kämpft gegen Kinderehen

Schülerinnen und Schüler halten Plakate gegen Kinderheirat hoch.
picture alliance / abaca/Akash Anshuman/ABACA
Schülerinnen und Schüler verschiedener Schulen halten Plakate während der „Kampagne für ein Indien ohne Kinderheirat“ hoch, die im Oktober 2022 von einer Nichtregierungsorganisation im Slumgebiet Sanjay Camp in Neu-Delhi veranstaltet wurde.
Kinderschutz
Im indischen Bundesstaat Haryana verhindert die Polizei die Hochzeit einer Jugendlichen - ein Fall, der zeigt, wie neue Allianzen, Aufklärung und ein Gerichtsurteil den Kampf gegen Kinderehen stärken.

In einem schlichten Raum einer Kinderschutzorganisation in der nordindischen Stadt Jind sitzt die 16-jährige Pooja mit ihrer Mutter und ihrer Tante auf Plastikstühlen. Das junge Mädchen sollte mit einem 40-jährigen Mann verheiratet werden, den sie nie zuvor gesehen hatte. Seit 2006 sind Kinderehen in Indien strafbar, dennoch bleibt die Praxis in vielen ländlichen Regionen verbreitet.

Im Fall von Pooja griff die Polizei ein. Sie beendete die Hochzeitsfeier, bevor sie beginnen konnte. Es war eine Hand-in-Hand-Aktion mit dem Netzwerk „Just Rights for Children“. Dort berichtet Pooja mit leiser Stimme: "Plötzlich habe ich erfahren, dass meine Mutter einen Hochzeitstermin für mich festgelegt hatte. Ich fühlte mich unbehaglich.”

Gefährliche Heiratspraxis

Ihre Mutter Manisha, Tagelöhnerin, erklärt, sie habe ihre Tochter früh verheiraten wollen, um die Familienehre zu retten: "Ich arbeite auf den Feldern und halte mich dort rund um die Uhr auf. Ich kann mich nicht um meine Tochter kümmern.” Also habe sie gedacht, es sei gut, ihre Tochter zu verheiraten. Für die abgesagte Feier hatte sie 200.000 Rupien, umgerechnet rund 2.000 Euro, geliehen. Ein Vermögen für eine Frau, die täglich kaum fünf Euro verdient.

Rund 23 Prozent der Kinder in Indien würden momentan verheiratet, bevor sie 18 Jahre alt sind, zitiert die Kinderschutzaktivistin Manish Zahlen des UN-Kinderhilfswerks Unicef. 1,5 Millionen Mädchen im Jahr. Das habe gravierende Folgen - psychisch und körperlich. „Nach der Hochzeit kann das Mädchen dem Druck nicht standhalten. Sie ist so jung und die Familie verlangt, dass sie sofort ein Kind bekommt“, erklärt Manish. „Meist wird sie auch schnell schwanger, aber bei der Geburt kommt es häufig zu Komplikationen.“ Manche der Mädchen überlebten nicht.

Erste Erfolge

Bei Poojas geplanter Verheiratung war die Polizeiaktion möglich geworden, weil Nachbarn den Fall an eine Nichtregierungsorganisation gemeldet hatten, die dem Netzwerk „Just Rights for Children“ angehört. Seine Teams seien regelmäßig in Schulen und Dörfern unterwegs, um Eltern über die Gesetze und über die Risiken von Teenager-Ehen aufzuklären, sagt Koordinator Narendra Sharma. Er deutet auf einen Stapel Papier auf seinem Schreibtisch: „Allein in Jind haben wir im vergangenen Jahr 1.000 Verpflichtungserklärungen gesammelt, in denen Eltern zusichern, ihre Töchter erst nach dem 18. Geburtstag zu verheiraten.“

Nach Daten einer nationalen Erhebung zu Familie und Gesundheit gingen die Kinderehen in Indien zwischen 2005 und 2021 deutlich zurück. Betroffen sind noch 23,3 Prozent der Minderjährigen, vor zwei Jahrzehnten waren es 44,7 Prozent.

Gemeinsame Anstrengungen

Im Einsatz gegen die Frühverheiratungen ziehen Organisationen und Behörden dabei an einem Strang. „Wenn Eltern sich weigern, die Feier zu stoppen, zeigen wir alle Beteiligten an - vom Priester über den Fahrer bis zu den Gästen“, sagt Sharma. Es habe sich gezeigt, dass nur dieses konsequente Vorgehen zu Umdenken führe. Wo auch die traditionellen Ältestenräte, die Panchayats, mit im Boot sind, ist der Erfolg am größten. Das ist nicht immer der Fall.

Die Panchayats unterstützten das Gesetz gegen Kinderehen, betont Sardar Gurvinder Singh Sandhu. Er ist mit den Vorstehern anderer Ältestenräte in dem kleinen Dorf Ashraf Garh zusammengekommen, um über gesellschaftliche Veränderungen zu beraten. „Wenn uns eine geplante Hochzeit bekannt wird, versuchen wir, die Familie zu überzeugen, sie abzusagen. Wir leisten Aufklärungsarbeit.“ Doch nach Erfahrung von Nichtregierungsorganisationen gehören den Panchayats oft Männer an, die selbst in Kinderehen leben und diese Praxis stillschweigend dulden.

Der Jurist Bhuwan Ribhu, Gründer des „Just Rights“-Netzwerks, nennt die Frühverheiratungen „gesellschaftlich legitimierte Vergewaltigung“. Seit Jahren kämpft er für eine konsequente Umsetzung des Kinderehenverbots von 2006. Sein Engagement führte 2024 auch zu einem entscheidenden Gerichtsurteil: Der Oberste Gerichtshof bestätigte seine Interpretation, Kinderehen strafrechtlich als Vergewaltigung zu betrachten. Im Oktober desselben Jahres legte ein weiteres Urteil fest, dass Panchayats und Polizei gemeinsam dafür verantwortlich sind, das Verbot umzusetzen.

In Indien gebe es ein Drittel aller Kinderehen weltweit, sagt Ribhu. Doch das Land befinde sich an einem Wendepunkt. Auch Unicef spricht von deutlichen Fortschritten und hält es für möglich, die Tradition bis 2030 - mithilfe zusätzlicher Anstrengungen - vollständig abzuschaffen.

Buch zum Thema Kinderehen: Bhuwan Ribhu: When Children have Children, Tipping point to end Childmarriage, 2024

Ein Video zu dem Artikel finden Sie hier: https://www.epd-video.de/themen/beitrag/indien-kaempft-gegen-kinderehen

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