Künstler aus Lateinamerika haben auch in den USA zunehmend Erfolg
Gespräch mit Gustavo Santaolalla
Die Verschmelzung der unterschiedlichsten Musikstile haben Gustavo Santaolalla bekannt gemacht. Mit seinem Film über alte Tangomeister würdigt er die musikalischen Traditionen seiner argentinischen Heimat.
Herr Santaolalla, laut „Time Magazine“ sind Sie einer der einflussreichsten Latinos in den USA.
Ich war sehr überrascht, als ich davon hörte, denn ich nehme ja nicht direkt, sondern nur indirekt über meine Arbeit Einfluss. Schließlich produziere, komponiere und filme ich nur. Vielleicht haben einige Leute in den vergangenen Jahren die Platten von „Juanes“ oder vom „Café Tacuba“ gehört, den einen oder anderen Film wie „Amores Perros“ gesehen. Das heißt natürlich noch nicht, dass sie nachschauen, wer die Musik produziert oder komponiert hat. Gleichwohl hat es in den vergangenen Jahren einen Wandel in der US-amerikanischen Kultur gegeben. Unsere Kultur, die Kultur der Latinos, wird stärker wahrgenommen. Sie hat sich Respekt verschafft.
Diese Kultur ist auf unterschiedlichen Ebenen sehr erfolgreich.
Ja, nicht nur die Musiker, auch Schauspieler, Fotografen, Tänzer und Schriftsteller machen auf sich aufmerksam. Wir erleben in Lateinamerika derzeit eine Art Revolution. Es gibt ein neues Selbstbewusstsein, eine Art sich neu zu entdecken. Man hat begriffen, dass die Vereinigten Staaten zu diesem Kontinent gehören und nicht irgendwo darüber schweben. Das ist eine neue Erfahrung für beide Seiten, denn auch die US-Amerikaner müssen begreifen, dass immer mehr Amerikaner lateinamerikanischer Herkunft in ihrem Land leben. Das schafft eine lebendige Kultur, denn die Latinos, die in den USA leben, haben meist den Kontakt zu ihren Ländern und Familien behalten. Es gibt einen stetigen Austausch. Das unterscheidet uns von den Afroamerikanern, die diesen Austausch kaum mehr haben. Wir wissen, welche Musik in Mexiko oder Argentinien gerade angesagt ist. Zudem hat sich die Gesellschaft in den USA gewandelt, sie ist bunter geworden, vor allem im Süden. Es gab und gibt einen Latin-Boom, förmlich eine kulturelle Explosion. Dazu haben viele Künstler beigetragen. Nehmen Sie den Regisseur Guillermo del Toro, den Komponisten Alberto Iglesias oder Schauspieler wie Gael García Bernal, den Darsteller des jungen Ché. Die Liste ist lang und wir stehen nicht mehr nur für Mariachi- und Conga-Musik, auch wenn ich die durchaus schätze. Die alten Stereotypen sind längst überholt, und wenn es um die Oscars oder die britischen Academy Awards geht, dann sind Lateinamerikaner immer öfter dabei.
Sie haben Argentinien 1978 verlassen. Haben Sie bestimmte Facetten der argentinischen Kultur wie den Tango erst in Los Angeles schätzen gelernt?
Nein, ich bin zwar 1978 vor der Diktatur in Argentinien geflüchtet, die über 30.000 Menschen hat verschwinden lassen, aber ich war meinem Land immer nahe. Ich habe immer am kulturellen Leben teilgenommen, habe es verfolgt, Platten und Bücher gehört und gelesen, und ich reise ja auch regelmäßig nach Argentinien. Als ich mit 16 Jahren meine erste Band gründete, haben wir schon Altes und Neues miteinander verbunden. Ich habe mich immer auch mit den traditionellen Genres beschäftigt, sie waren von vornherein Teil meiner Musik.
Demnach ist die Verschmelzung von indianischer und europäischer Kultur mehr als ein Konzept?
Verschmelzung ist Teil der menschlichen Geschichte. Das läuft seit Jahrtausenden so, dem kann man sich gar nicht entziehen. Heute ist die Vermischung ein zentrales Charakteristikum der Welt, in der wir leben, und ich schwimme da nur mit im Strom.
Sie jonglieren virtuos mit den musikalischen Genres: Morgens produzieren Sie ein neues Album mit den Ska-Rockern von „Vela Puerca“ aus Uruguay, mittags schreiben Sie für Ihre eigene Band „Bajofondo“ Tangomelodien, die mit Versatzstücken von Rock, Electro oder Hip Hop fusioniert werden, und abends komponieren Sie noch ein wenig Filmmusik. Gibt es einen Sound, den Sie bevorzugen?
Nein, ich möchte keine Präferenzen treffen. Für mich gibt es nur gut und schlecht. Das betrifft nicht nur die Musik, sondern die ganze Kultur. Natürlich gefällt mir das eine oder andere besser, aber ich habe auch etwas übrig für eine gute Polka. Das gilt ebenso für einen guten Pop- oder Rocksong wie für ein gutes Stück klassischer Musik. Qualität ist das ausschlaggebende Kriterium.
Ihre Band Bajofondo wird gern in die Schublade mit dem elektronischen Tango gesteckt. Passt Ihnen das?
Oh nein, denn ich bin nicht der Meinung, dass wir elektronischen Tango machen. Wir spielen moderne Musik vom Rio de la Plata, nicht mehr und nicht weniger. Obendrein kommen alle Bandmitglieder aus exakt dieser Region. Folglich verschmelzen wir alle Genres, die zu unserer Kultur gehören: Milonga, Rock, Hip Hop und eben auch elektronische Musik.
Für „Mar Dulce“, das neue Album von Bajofondo, haben Sie die alte Tangosängerin Lagrima Ríos eingeladen. Wie kam es dazu?
Seit drei Jahren arbeite ich an einem Projekt, das „Café de los Maestros“ heißt. Daran nehmen mehr als dreißig Tangokünstler der alten Schule teil. Wir haben bei den Sessions nicht nur aufgenommen, sondern auch gedreht. Lagrima Ríos ist bei diesem Projekt dabei gewesen und als wir die Arbeiten für das Bajofondo-Album begannen, kam mir die Idee, sie einzuladen. Es waren die letzten Aufnahmen, die sie gemacht hat. Einige Monate später starb diese eindrucksvolle Frau mit 82 Jahren. Sie hat uns viel hinterlassen, das ist auch in dem Film „Café de los Maestros“ zu sehen.
Für die Realisierung dieses Films waren Sie viel in Ihrer alten Heimat.
Argentinien ist mein Land, es ist sehr wichtig für mich. Natürlich war es damals für mich, wie für viele andere, nicht leicht. Mein Name stand auf einer schwarzen Liste, meine Musik war nicht erwünscht, ich wurde etliche Male von der Polizei festgenommen. Aber ich habe Glück gehabt, denn ich wurde nie geschlagen und gefoltert. Ich wurde meist ein, zwei, höchstens drei Tage festgehalten. Ich kenne Leute und hatte Freunde, die spurlos verschwunden sind. Wir lebten in einem von Panik geprägten Alltag. Angst, Terror und Straflosigkeit bestimmten unser Leben.
Wie denken Sie über die Regierung Kirchner, die sich bemüht, die Vergangenheit aufzuklären und den Deckmantel des Schweigens zu lüften?
Ich begrüße und unterstütze das, obwohl ich keiner politischen Partei angehöre. Das ist eine wichtige Arbeit für die Zukunft des Landes. Ich begrüße auch die Abkehr vom Internationalen Währungsfonds. Der Schritt, die Schulden in Washington zu zahlen, und die Ansage, wir werden mit Euch keine Geschäfte mehr machen, haben mich sehr gefreut.
Ist das ein Teil des lateinamerikanischen Selbstfindungsprozesses, ein Akt der Selbstbefreiung?
Ja, die Richtung stimmt: Wir müssen uns stärker bewusst werden, was wir haben und können. Das war auch ein Grund dafür, diesen Film über die alten Tangomeister zu machen.
Die Fragen stellte Knut Henkel, freier Journalist in Hamburg.
Der 55-jährige Gitarrist und Produzent Gustavo Santaolalla gehört in Argentinien zu den Legenden der Rockmusik. Er hat für die Filmmusik zu „Brokeback Mountain“ und „Babel“ jeweils einen „Oscar“ erhalten.
welt-sichten 2/3-2008