„Die EU muss zeigen, dass ihr nicht egal ist, was im Kaukasus passiert“

Bergkarabach
Ein Jahr nach Kriegsende in Bergkarabach spricht Sonja Schiffers, Expertin für den Südkaukasus, über Feindbilder, Versöhnung und die schwierige Rolle der Europäischen Union.

Sonja Schiffers leitet das Regionalbüro Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung mit Sitz in Tbilissi, Georgien. Zuvor war sie unter anderem im Deutschen Bundestag außenpolitische Referentin von Cem Özdemir und Gastwissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist Mitglied im Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung.
Diese Woche jährt sich das Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan im Konflikt um Bergkarabach. Wie ist die Lage dort heute?
Von Frieden ist die Region leider weit entfernt. Unter russischer Vermittlung wurde im November 2020 ja auch kein Friedens-, sondern nur ein Waffenstillstandsabkommen zwischen den beiden Kaukasus-Republiken ausgehandelt. Jahrzehnte der Propaganda und des gegenseitigen Misstrauens haben sich im jüngsten Krieg ent- und wieder aufgeladen, die Feindbilder auf beiden Seiten sind verhärtet. Umfragen zufolge glauben 72 Prozent der Armenier nicht an eine friedliche Koexistenz mit Aserbaidschan. Aus Aserbaidschan gibt es leider kaum verlässliche Daten. Der Konflikt um die autonome Region Bergkarabach ist alt, und beide Seiten beschuldigen einander, gar keinen Frieden zu wollen. In die andere Seite hineinversetzen will oder kann sich kaum jemand, es gilt nur die eigene Perspektive.

Wie viele Menschen wurden vertrieben?
Die Zahlen schwanken, aber allein aus Bergkarabach sind im letzten Krieg rund 90.000 Menschen nach Armenien geflohen. Davon sind laut verschiedenen Quellen zwischen 22.000 und 36.000 Menschen noch immer in Armenien. Die, die nach Bergkarabach zurückgekehrt sind – wenn schon nicht in ihre Heimatdörfer, dann wenigstens in die Hauptstadt Stepanakert –, leben oft unter schwierigen Bedingungen. Es gibt viele Stromausfälle, und auch bei der Wasserversorgung gibt es Engpässe, weil Wasserkraftwerke und Stromleitungen teilweise unter aserbaidschanische Kontrolle geraten sind und die Bevölkerungszahl in Stepanakert dramatisch gestiegen ist. Wenn man über Geflüchtete spricht, darf man die Hunderttausenden im ersten Karabachkrieg (1992 - 1994) vertriebenen Aserbaidschaner aus Bergkarabach und den umliegenden Gebieten natürlich auch nicht vergessen. Wie viele davon nun an ihre ursprünglichen Wohnorte zurückkehren werden, bleibt abzuwarten.

Aserbaidschan hat Öl und Gas, aber eine autoritäre Regierung. Armenien hat keine Bodenschätze, wird jedoch demokratisch regiert. Die EU hat sich aus dem jüngsten Krieg fast ganz herausgehalten. Zeigt sich daran, dass Europa wirtschaftliche Interessen im Zweifel wichtiger sind als demokratische Werte?
Ich denke, mit dieser Erklärung macht man es sich zu einfach. Ich halte mit meiner Kritik am autoritären Regime Aserbaidschans nicht hinter dem Berg, aber Rohstoffe und Kaviar-connections taugen nicht als alleinige Begründung für die europäische Zurückhaltung, die zweifelsohne viele Armenier bitter enttäuscht hat. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass die EU schärfere Kritik gegenüber dem militärischen Vorgehen Aserbaidschans, das den Krieg begonnen hat, und der türkischen Unterstützung übt.

Welche Gründe gibt es für die Neutralität Europas?
Die Region Bergkarabach, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt war, ist laut Völkerrecht aserbaidschanisches Territorium. Auch deswegen fiel es der EU schwer, sich klar auf die Seite Armeniens zu schlagen. Offensichtlich schreckte die EU nicht nur davor zurück, gegenüber Aserbaidschan deutlicher zu werden, sondern auch gegenüber der Türkei. Die hat im Krieg Aserbaidschan massiv unterstützt, etwa mithilfe von Militärberatern und Waffenexporten, insbesondere Drohnen. Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei sind auf einem Tiefpunkt, da wollte man vielleicht nicht noch einen Problemherd sehen, obwohl es inakzeptabel ist, dass ein NATO-Mitglied sich in der europäischen Nachbarschaft wiederholt eigenmächtig militärisch in Konflikte einmischt. Und schließlich mangelt es in den Ministerien und Behörden in Deutschland und der EU schlichtweg an Expertise zu Armenien und Aserbaidschan und an ausreichend Fachpersonal. Das muss sich dringend ändern, wenn wir in der Region aktiver werden möchten.

Was ist jetzt auf dem Weg zu dauerhaftem Frieden nötig?
Ich bin skeptisch, dass man einen nachhaltigen Frieden erreichen kann, ohne die schwierigen Fragen von Gerechtigkeit und Strafverfolgung anzugehen. Beide Seiten haben im Krieg das humanitäre Völkerrecht missachtet. Aserbaidschan hat geächtete Streumunition eingesetzt, und Armenien hat auch zivile Ziele bombardiert. Die Gewalt der letzten Jahrzehnte und darüber hinaus muss irgendwann gesellschaftlich aufgearbeitet werden und soll jetzt zumindest teilweise auch vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt werden.

Was bedeutet der Sieg Aserbaidschans für das Kräfteverhältnis in der Region?
Die türkische Unterstützung für den Krieg ist einzuordnen in die immer stärker militarisierte Außenpolitik der Türkei der vergangenen Jahre. Schockierend finde ich, dass sich nur ein ganz kleiner Teil der türkischen Öffentlichkeit gegen diesen Krieg ausgesprochen hat. Nationalistische Stimmen, die von pan-türkischer Bruderschaft schwärmen, wurden so gestärkt. Die Türkei spielt aber eine kleinere Rolle im Vergleich zu Russland, das seinen Einfluss erneut unter Beweis gestellt hat. Russland ist die wichtigste (Un-)Ordnungsmacht im südlichen Kaukasus – Europa hat im Vergleich dazu leider wenig zu melden. Sicherheitspolitisch und militärisch hat die EU noch nie die Hauptrolle in der Region gespielt.

Armenien galt vor dem Krieg als junge und proeuropäische Demokratie. Hat der Krieg diese Entwicklung gestoppt?
Er hat sie gebremst. Der Krieg und der Verlust von Menschenleben und Territorium waren ein Schock und kamen unerwartet für Armenien. In den Ministerien ist der Krieg mit seinen Folgen weiterhin dominant, es werden zum Beispiel Projekte zur Unterstützung von Kriegsveteranen vorangetrieben, es geht um die Integration der Geflüchteten und eine Reform des Militärs. In der öffentlichen Wahrnehmung steht das Thema Sicherheit an erster Stelle, alle anderen Themen sind weit abgeschlagen. Insgesamt hat der Krieg zu einer innenpolitischen Destabilisierung geführt. Die nationalistische Opposition greift den armenischen Ministerpräsidenten Paschinjan scharf an und beschuldigt ihn, durch seine Politik den Krieg verloren zu haben. Und die Zivilgesellschaft kritisiert Paschinjan, weil er seine Versprechen der Samtenen Revolution 2018, zu denen zum Beispiel eine Reform des Justizwesens zählt, nicht eingehalten habe. Paschinjan versucht in dieser Gemengelage nun auch mit fragwürdigen Methoden die Kontrolle zu bewahren. So wurde zum Beispiel ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für die Beleidigung öffentlicher Personen drastisch erhöht. Das ist kein gutes Zeichen für die Presse- und Meinungsfreiheit.

Dennoch wurde Paschinjan im Juni mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Eher ungewöhnlich, wenn man als Staatschef einen Krieg verliert, oder?
In der Tat, und ich sehe darin grundsätzlich ein ermutigendes Zeichen für die demokratische Entwicklung Armeniens. Aber zuzuschreiben ist das Wahlergebnis auch einem Mangel an Alternativen. Die Erinnerung an die Verbrechen und die Korruption der alten Regierung, die nun in der Opposition sitzt, ist nicht vergessen. Diese Regierung wurde vor drei Jahren friedlich aus dem Amt gejagt und viele Armenier wünschen sich weiterhin Reformen, Demokratie und Modernisierung.

Unter Vermittlung der russisch-orthodoxen Kirche haben Mitte Oktober die religiösen Führer Armeniens und Aserbaidschans über eine Lösung des Konflikts um die Region Berg-Karabach beraten. Können die Religionen hier zum Frieden beitragen?
Das wage ich nicht einzuschätzen. Wer aber langfristig zum Frieden beitragen kann, sind zivilgesellschaftliche Initiativen, wenn sie aus ihrer Blase rauskommen. Der Krieg hat zwar zu großen Enttäuschungen in der Friedenscommunity geführt und es gab eine nationalistisch-martialische Rhetorik, aber im beziehungsweise nach dem Krieg sind auch neue Friedensinitiativen entstanden. Interessanterweise sind das welche, die nicht von internationalen Gebern unterstützt werden, sondern aus den Ländern selbst kommen beziehungsweise aus der Diaspora. Hier gibt es einige Gruppen, die für Versöhnung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern eintreten, zum Beispiel die Bright Garden Voices oder Caucasus Talks. Die EU sollte solchen Gruppen erstmal zuhören und dann überlegen, ob und wie sie sie sinnvoll unterstützen kann, auch über finanzielle Mittel hinaus. Ansonsten kann die EU vor allem in Armenien selbst einen Unterschied machen. Das kürzlich angekündigte Hilfspaket für Armenien in Höhe von 2,6 Milliarden Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren ist hier positiv zu werten. Es ist das bislang größte EU-Hilfspaket für Armenien und beinhaltet Fördergelder und Investitionen in Bereichen wie wirtschaftliche Entwicklung, Infrastruktur, Energie, und digitale Transformation. Das staatliche und internationale Konfliktmanagement um Bergkarabach im engeren Sinne zu beeinflussen, wird schwierig für die EU.

Wieso?
Das Konfliktmanagement hat sich durch die starke Rolle Russlands und die zunehmende Beteiligung der Türkei in Richtung „autoritärer Frieden“ entwickelt. Für Russland und die Türkei zählt das Recht des Stärkeren. Die EU funktioniert nach einer anderen Logik und kann sich in diesem Spiel nur schwer verorten. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist ihr Engagement in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte, das sie trotz der illiberalen Entwicklungen in einigen EU-Mitgliedsstaten fortführen und ausbauen sollte. Es ist wichtig, dass die EU durch konkretes Engagement all denen, die sich in der Region für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, zeigt, dass es ihr nicht egal ist, was im Kaukasus passiert.

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

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