Der eingefrorene Konflikt

Von den Konflikten, die mit dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind, ist der um die armenische Enklave Berg-Karabach in Aserbaidschan der älteste und am schwersten zu lösende. Seit 15 Jahren schweigen die Waffen, doch Frieden ist nicht in Sicht. Immerhin stehen seit einigen Monaten die Zeichen auf Annäherung und die internationalen Bemühungen um eine Lösung haben sich verstärkt.

Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach ist der gefährlichste auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion. Er ist aber auch der am wenigsten beachtete. Meist ist es in dem Gebiet ruhig, und die Verhandlungen über eine Lösung finden unter höchster Geheimhaltung statt. Oft wird der Konflikt als „eingefroren“ bezeichnet; der allgemeine Eindruck ist, das Problem sei unter Kontrolle.

Doch der Schein trügt. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass in nächster Zeit erneut Kämpfe um Berg-Karabach ausbrechen. Doch den Konflikt ungelöst zu lassen, hat einen hohen Preis. Die längste Grenze im Kaukasus – die zwischen Armenien und Aserbaidschan – bleibt ebenso geschlossen wie die zwischen Armenien und der Türkei. Rund eine Million Menschen leben als Flüchtlinge, davon die Hälfte aus den sieben aserbaidschanischen Bezirken rund um die Enklave, die ganz oder teilweise von armenischen Truppen besetzt sind. Eisenbahnlinien führen ins Nichts und Pipelines werden auf großen Umwegen um das Konfliktgebiet herumgeführt. Auf beiden Seiten ist der politische Diskurs durch eine aggressive Rhetorik gegenüber dem Gegner vergiftet.

Autor

Thomas de Waal

ist Forschungsmitarbeiter von Conciliation Resources und Autor des Buches „Black Garden: Armenia and Azerbaijan Through Peace and War” (New York University Press 2003).

Langfristig besteht zudem die Gefahr eines neuen Krieges, und der wäre weit verhängnisvoller als der um Südossetien im vergangenen August. Das potentielle Konfliktgebiet ist viel größer, dort und im Umfeld sind mehr Soldaten stationiert. Und die geografische Lage Berg-Karabachs zwischen Russland, der Türkei, dem Iran und dem Kaspischen Meer, in unmittelbarer Nachbarschaft sowohl zur Transkaukasischen Öl-Pipeline wie zur Südkaukasus- Gas-Pipeline, ist deutlich kritischer.

Der Konflikt um Berg-Karabach begann im Februar 1988, als die armenischen Bewohner der autonomen Hochlandregion (seinerzeit nur 140.000 Menschen) für die Abtrennung von der Sowjetrepublik Aserbaidschan und den Anschluss an die Sowjetrepublik Armenien votierten. Für die Karabach-Armenier war die Abstimmung eine Frage historischer Gerechtigkeit und bestimmt von ihrem ethnischen Zugehörigkeitsgefühl; für Aserbaidschan bedeutete sie eine unmittelbare Bedrohung der Republik.

Dem damaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow und seiner Regierung gelang es nicht, den Konflikt zu entschärfen. Fast 70 Jahre unterdrückte nationalistische Leidenschaften kochten hoch. Gewalt brach zwischen Armeniern und Aserbaidschanern aus, und fortan begegnete man dem eigenen Nachbarn mit Angst. Die Sowjetunion wollte der Krise nicht mit Repression in großem Stil begegnen, und in der Folge geriet sie außer Kontrolle.

Aserbaidschan beschneidet die Rechte nichtstaatlicher Organisationen

Aserbaidschan hat in den vergangenen Monaten mehrere Gesetze verabschiedet, mit denen die Rechte nichtstaatlicher Organisationen (NGO), religiöser Gemeinschaften und der ...

1991 wurde aus dem innersowjetischen Bürgerkrieg ein Krieg zwischen den beiden neuen unabhängigen Republiken Armenien und Aserbaidschan, wobei die Staatengemeinschaft Berg-Karabach als Teil des letztgenannten Staates anerkannte. Aserbaidschan war innerlich zerrissen, während die armenische Seite besser organisiert war und mehr Unterstützung aus Russland erhielt. 1994 gewann Armenien den Krieg und erlangte die Kontrolle nicht nur über Berg-Karabach, sondern auch über eine so genannte Pufferzone auf aserbaidschanischem Boden um die Enklave herum, wo mehrere Dutzend Städte und Dörfer lagen.

Die Waffenstillstandslinie, oder „Berührungslinie“, zwischen beiden Seiten wurde mit der Zeit zunehmend befestigt, Schützengräben wurden ausgehoben. So gleicht sie inzwischen einer langen Narbe, die sich mitten durch die Landschaft zieht. Mehrere Dutzend Soldaten lassen hier Jahr für Jahr infolge explodierender Landminen und bei Schusswechseln ihr Leben. Der Waffenstillstand entlang der 175 Kilometer langen „Berührungslinie“ und der armenisch- aserbaidschanischen Grenze hält jedoch nur, solange beide Seiten guten Willens sind. Die sechs unbewaffneten Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) können neue Kämpfe nicht verhindern, falls eine Seite – vermutlich am ehesten das unterlegene Aserbaidschan – die Feindseligkeiten wieder aufnehmen will.

Das heutige Aserbaidschan ist dank reichlich sprudelnder Einnahmen aus dem Erdölgeschäft und der Pipeline, die von Baku über Tiflis in das türkische Ceyhan führt, ein ganz anderes Land als 1994. In Taten und Worten präsentiert es sich mit neu erwachtem Selbstbewusstsein und richtet Drohgebärden gegen die Armenier, die es als „Besatzer aserbaidschanischen Bodens“ bezeichnet. Sein Militärhaushalt umfasst in diesem Jahr zwei Milliarden Dollar und übersteigt damit den gesamten armenischen Staatshaushalt – eine Tatsache, die Präsident Ilham Alijew gerne hervorhebt.

Die armenische Seite aber lässt sich nicht einschüchtern. Ihre Streitkräfte könnten sich gegen „jeden Eingriff in unsere Unabhängigkeit und Sicherheit“ zur Wehr setzen und die Kämpfe im Falle eines Angriffs aus Aserbaidschan „tief ins Gebiet des Gegners tragen“, erklärte der Führer der Karabach-Armenier, Bako Sahakian, im vergangenen Oktober im Beisein des armenischen Präsidenten.

Aus Sicht der Karabach-Armenier ist gegen den Status quo nichts einzuwenden. Sie betrachten die Unabhängigkeit von Aserbaidschan de facto, wenn nicht sogar de jure als vollendete Tatsache und denken, dass sie in Ruhe ihren Staat weiter aufbauen können, während die Welt sich allmählich mit der neuen Realität abfindet. Diese zuversichtliche Haltung bekam noch Auftrieb, als es dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili im August 2008 misslang, im Konflikt um Südossetien die Oberhand zu gewinnen. Damit schien sich zu bestätigen, dass Pläne für die „Rückeroberung“ eines separatistischen Teilgebietes zum Scheitern verurteilt sind.

Die Republik Armenien ist in einer weniger eindeutigen Lage – schließlich leidet ihre Wirtschaft mehr als die Berg-Karabachs darunter, dass die Grenze zur Türkei geschlossen ist, und unter dem diplomatischen Druck wegen der Besetzung aserbaidschanischen Staatsgebiets. Dennoch kommen auch von hier meist patriotische Töne. Präsident Sersch Sarkisjan stammt aus Karabach und ist Kriegsveteran: in seinen Äußerungen erscheint er einmal eher wie jemand, der seinen Sieg bewahren will, und ein anderes Mal wie jemand, der sich wünscht, dass Armenien endlich das Karabach-Problem los ist und sich voranbewegt.

Der Friedensprozess um Berg-Karabach ist von einem schmerzhaften Paradox gekennzeichnet. Jeder weiß, wie in groben Zügen eine Friedensvereinbarung aussehen wird: Für die Karabach-Armenier bleibt alles beim Alten und sie bekommen eine Selbstverwaltung; die besetzten Gebiete um Berg-Karabach werden an Aserbaidschan zurückgegeben und entmilitarisiert, so dass die früheren Bewohner zurückkehren können; für den Bezirk Latschin, der Armenien und Berg-Karabach verbindet, wird es Sondervereinbarungen geben. Die von der OSZE im Dezember 2007 ausgearbeiteten so genannten Madrider Prinzipien sind die Arbeitsgrundlage für ein Friedensabkommen und beruhen auf diesen Grundsätzen. Vermittler berichten, dass die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans kurz davor sind, sie im Großen und Ganzen zu akzeptieren.

Trotzdem kommt es nicht zu einem Abkommen. Es sah schon einige Male so aus, als stünden die Verhandlungsparteien kurz vor einem Durchbruch, aber bei entscheidenden Treffen hat entweder die eine oder die andere Seite – manchmal auch beide – einen Rückzieher gemacht. Das nährt den Verdacht, dass die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans – beide Führer semi-autoritärer Staaten, für die der Machterhalt oberste Priorität hat – nur der Form halber an den Verhandlungen teilnehmen und damit die Außenwelt besänftigen wollen, ohne ernsthaft an einem Friedensabkommen interessiert zu sein, das sie zu schmerzhaften Kompromissen zwingen würde. Ständig ziehen sie den unbefriedigenden, aber stabilen Zustand zwischen Krieg und Frieden gegenüber einem riskanten richtigen Frieden vor.

Daran wird sich wohl nichts ändern, solange der Verhandlungsprozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und nur eine Handvoll Menschen daran teilnehmen. Beteiligt sind von jeder Seite nur ein halbes Dutzend Personen und dazu die drei gemeinsamen Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE – je einer aus den USA, Frankreich und Russland –, die als Vermittler auftreten. Es dringen kaum Informationen über die Verhandlungen nach außen und wichtige Gruppen wie die Karabach-Armenier und die aserbaidschanische Flüchtlingsgemeinschaft sind nicht offiziell vertreten. Auch zeigt sich die Zivilgesellschaft insgesamt eher der Vergangenheit verhaftet und verfolgt die Verhandlungen mit Zynismus.

Im Sommer 2009 gibt es allerdings kleine Zeichen der Hoffnung. Die Botschafter Armeniens und Aserbaidschans in Moskau, beide namhafte Intellektuelle, machten bereits den zweiten grenzüberschreitenden Besuch von Baku nach Eriwan und durchquerten dabei das Gebiet von Berg-Karabach einschließlich der Waffenstillstandslinie. Zwischen beiden Präsidenten gab es vermehrt Kontakte und Präsident Alijew ließ jüngst bei einem Fernsehinterview eindeutig gemäßigte Töne vernehmen.

Inzwischen engagieren sich zudem drei internationale Akteure stärker und konstruktiver: Auf Initiative des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew unterzeichneten Alijew und Sarkisjan im vergangenen November das Moskauer Abkommen, in dem sie ihre Unterstützung für ein ausgehandeltes Friedensabkommen bekräftigen. Russland wollte damit zum Teil sein internationales Ansehen nach dem Georgien-Krieg wieder aufbessern und auf Kosten Georgiens die Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan stärken. Mit Aserbaidschan hat es auch eine Vereinbarung über den Kauf von Gas geschlossen. Natürlich verfolgt Russland im Südkaukasus seine eigenen Interessen. Der Kreml zeigt sich aber im Hinblick auf Berg-Karabach deutlich konstruktiver als in Bezug auf Abchasien und Südossetien. Für die Umsetzung jedes möglichen Friedensabkommens ist die russische Regierung ein unentbehrlicher Partner.

Die Türkei hat ebenfalls ihre Bereitschaft zu Veränderungen signalisiert. Das begann mit der „Fußballdiplomatie“ von Präsidenten Abdullah Gül, der sich bei seinem historischen Besuch in Eriwan im vergangenen September ein Fußballspiel zwischen Armenien und der Türkei anschaute. Im April veröffentlichten beide Regierungen eine Erklärung, in der von einem „Fahrplan“ zur Wiederherstellung der Beziehungen und einer möglichen Öffnung der Grenze die Rede war. Karabach wurde darin nicht erwähnt.

Dass Armenien und die Türkei über Versöhnung sprechen, ist ein historischer Schritt. Erneut droht aber der Karabach-Konflikt die Verständigung zu verhindern: Aserbaidschan reagierte aufgebracht und betrachtete den „Fahrplan“ als verräterischen Akt, weil ihm damit ein wichtiges Druckmittel gegenüber Armenien im Konflikt um Berg-Karabach genommen würde. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan erklärte daraufhin bei seinem Besuch in Baku im Mai – als wäre ihm das plötzlich wieder eingefallen –, die Besetzung Berg-Karabachs sei die Ursache für die Schließung der Grenze: „Deshalb ist es für uns unmöglich, die Grenze zu öffnen, solange nicht die Besatzung ein Ende hat.“ Für die Armenier eine herbe Enttäuschung. Doch es besteht noch immer die Hoffnung, dass die Türkei beide Seiten zu mehr Flexibilität in den Friedensgesprächen überreden kann.

Schließlich schenkt auch die Europäische Union (EU) dem mehr Aufmerksamkeit. Das Projekt der Östlichen Partnerschaft (vgl. den Beitrag von Hale in diesem Heft) richtet sich an fünf frühere Sowjetstaaten, von denen sich zwei – Armenien und Aserbaidschan – in einem latenten Kriegszustand. Die EU kann es sich nicht leisten, das zu ignorieren. Sie hat auch begriffen, dass die Stabilisierung Georgiens und die geplante Nabucco-Gaspipeline von Zentralasien nach Europa bedroht sind, wenn der Karabach-Konflikt nicht gelöst wird. Die EU besitzt „weiche Macht“ und Erfahrungen vom Engagement auf dem Balkan, die sie im Konflikt um Berg-Karabach einsetzen könnte. Gegenwärtig gilt sie als größter potentieller Geldgeber für humanitäre Projekte und den Wiederaufbau in Nachkriegssituationen. Wenn sie ihre formelle Beteiligung am Friedensprozess durchsetzen könnte, würde sie das Problem auf die europäische Tagesordnung setzen und ein Verhandlungsszenario aufbrechen, das viel zu eng angelegt ist.

Die Suche nach einer friedlichen Lösung für Berg-Karabach erinnert an die Arbeit des griechischen Helden Sisyphus, der immerzu einen Felsblock den Berg hinaufschieben und dann zusehen musste, wie er wieder hinunterrollte. Um endlich Frieden zu erreichen, müssen mehr Menschen innerhalb und außerhalb der Region anfangen, sehr viel stärker zu schieben.

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2009: Kaukasus: Kleine Völker, große Mächte
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