Zum Kompromiss nicht fähig

Zum Kompromiss nicht fähig

Israel und die Palästinenser sind zu sehr unter sich zerstritten, um auf einander zuzugehen

Von Glenn E. Robinson

Seit Dezember vergangenen Jahres verhandeln die israelische Regierung und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas erneut über ein Ende des Nahost-Konflikts. Beide Seiten sind aber nicht in der Lage, Zugeständnisse für eine Zweistaatenlösung zu machen. Bei den Palästinensern streiten die Fatah und die Hamas weiter um die Macht. Und Israel ist nichtfähig, das Problem der Siedlungen im Westjordanland zu lösen.

Die historische Gelegenheit für eine Zweistaatenlösung des Israel-Palästina-Konflikts könnte schon bald wieder vorbei sein – trotz der erklärten Entschlossenheit aller Parteien, dieses Jahr eine Einigung zu erzielen. Die Palästinenser sind zu zerstritten, um irgendeine Art von Konsens zu erreichen. Israel wiederum ist gelähmt und nicht fähig, die nötigen Schritte für eine stabile Zweistaatenlösung zu tun.

Im Januar 2006 erreichte die Hamas bei den Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten die absolute Mehrheit im Parlament, nicht aber die Mehrheit der abgegebenen Stimmen: Sie erhielt 44 Prozent der Stimmen des Volkes, bekam aber 74 von insgesamt 132 Parlamentssitzen (gegenüber 34 Sitzen der Fatah, die 41 Prozent der Stimmen erhielt). Das obskure neue Wahlgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde verwandelte einen kleinen Stimmenvorsprung der Hamas in eine satte Parlamentsmehrheit.

Die Fatah nahm das plötzliche Ende ihrer Einparteiherrschaft nicht leicht. Die Parteikader, die an die Vorzüge der Macht gewöhnt waren, hatten nun keinen Zugang mehr zu ihren Pfründen. Da die große Mehrheit der in den Autonomiegebieten unter Waffen stehenden Männer loyal zur Fatah stand, schien es verlockend, die Hamas einfach mit Gewalt von der Macht zu verdrängen. Mohammed Dahlan, zu dieser Zeit der oberste Kriegsherr der Fatah in Gaza, und seine Soldaten betrieben denn auch eine Politik der bewaffneten Provokation. Die US- Politik, geleitet von Elliot Abrams im Nationalen Sicherheitsrat, befeuerte den Kampfgeist der Fatah gegen die Hamas: Die USA bewaffneten und trainierten gemeinsam mit Ägypten und Jordanien eine neue Präsidentengarde, die sich gegenüber Fatah-Chef Mahmud Abbas loyal verhalten würde.

Die Hamas richtete daraufhin ihre eigene, 5000 Mann starke paramilitärische Truppe ein – die Executive Force – und stationierte sie im Gaza-Streifen. Militante Fatah-Anhänger attackierten wiederholt Ministerien der Hamas, das von der Hamas kontrollierte Parlament sowie weitere ihr nahestehende Institutionen. Trotz ständiger und leidenschaftlicher Warnungen führender Palästinenser vor einem Bürgerkrieg kam es im Dezember 2006 in Gaza täglich zu Mordanschlägen und Straßenschlachten zwischen der Hamas und der Fatah, bei denen etliche Menschen starben.

Auch die Vermittlung der Regierung Saudi-Arabiens im Februar 2007 führte nur zu einer kurzen Waffenruhe und einer vorübergehenden Einheitsregierung. Das Mekka-Abkommen hatte keinen Bestand, weil es nicht die zentrale Ursache der Gewalt unter den Palästinensern behandelte: die Ablehnung des politischen Pluralismus durch die Fatah-Hardliner und ihr Streben nach einer erneuten Einparteiherrschaft. Zwar waren einige der wichtigsten politischen Fatah-Führer bereit, sich unter gewissen Bedingungen auf eine Zusammenarbeit mit der Hamas einzulassen, doch die Kriegsherren der Fatah und die von ihnen kontrollierten bewaffneten Einheiten waren dagegen. Die Hardliner wurden dadurch zusätzlich bestärkt, dass die USA und Israel sie darin unterstützten, der Hamas nachzustellen. Es kam zu bewaffneten Provokationen und Vergeltungsschlägen, noch bevor die Tinte auf dem Mekka-Abkommen trocken war.

Die Hamas ist mit ihrem Putsch in Gaza der Fatah zuvorgekommen

Im Juni 2007 überwältigte die Hamas dann nach viertägigen Kämpfen die Fatah-Streitkräfte in Gaza. Abbas bezeichnete den Putsch sofort als Staatsstreich, brach alle Beziehungen zur Hamas ab, löste die erst drei Monate alte Einheitsregierung auf und ernannte Salam Fayyad zum Ministerpräsidenten. Die Hamas wiederum behauptete, sie habe nur eine demokratisch gewählte Regierung vor einem bewaffneten Umsturzversuch geschützt. Sie hatte zu Recht angenommen, ein Coup der Fatah stehe unmittelbar bevor: Unter der Leitung des US-amerikanischen Sicherheitskoordinators General Keith Dayton war eine 3500 Mann starke Präsidentengarde trainiert und bewaffnet sowie mindestens ein Bataillon kurz vor dem Hamas-Putsch in Gaza stationiert worden.

Die Hälfte der Hamas-Parlamentarier saß zu diesem Zeitpunkt in israelischen Gefängnissen. Ein Schlag der Fatah hätte die Hamas-Regierung gelähmt und Präsident Abbas eine Begründung geliefert, sie abzusetzen. Abbas hatte die erforderlichen Streitkräfte, um jeglichen Widerstand abzuwehren. Kurz davor erst hatte die jordanische Presse über ein Dokument der Vereinigten Staaten und der Palästinensischen Autonomiebehörde berichtet, das zum Sturz der Hamas aufrief und an die Presse durchgesickert war. Diese traf daraufhin die nachvollziehbare Entscheidung, schnell zu handeln, um wenigstens in Gaza an der Macht zu bleiben.

Als Folge des Hamas-Putsches wurden das Westjordanland und der Gaza-Streifen in zwei politisch und administrativ getrennte Einheiten geteilt – ein Zustand, an dem sich in naher Zukunft wahrscheinlich nichts ändern wird.

Seit September 2007, als Israel den Gaza-Streifen zum „feindlichen Gebiet“ erklärte, ist es fast ununterbrochen zu Gewalt in und um Gaza gekommen. Militante Palästinenser feuern pausenlos selbstgebaute Kassam-Raketen auf israelisches Gebiet. Israel reagiert regelmäßig mit militärischen Attacken am Boden und aus der Luft. Hunderte von Palästinensern, vorallem Zivilisten, sind getötet worden. Gaza ist inzwischen so verarmt, dass es in der Liste der ärmsten Länder bereits hinter Ruanda liegt.

Das Leben im Westjordanland ist nicht viel besser, denn für Palästinenser ist es dort fast unmöglich geworden, von einem Dorf ins andere zu reisen. Das Westjordanland ist in etliche isolierte Kantone aufgeteilt,  die von insgesamt über 500 israelischen Kontrollpunkten und Straßensperren voneinander getrennt werden. Hinzu kommt die riesige Grenzmauer, die Israel im Westjordanland baut.

Die israelischen Kolonien im Westjordanland treiben die Zerstückelung der palästinensischen Gebiete voran. Die unaufhaltsame Zunahme der Siedlungen erklärt zu einem guten Teil die skeptische Haltung der Palästinenser zum Oslo-Friedensprozess der 1990er Jahre. Zum Zeitpunkt der Friedenskonferenz in Madrid 1991 gab es 90.000 Siedler im Westjordanland (ohne Ost-Jerusalem). Als der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin im November 1995 ermordet wurde, war die Zahl schon auf 135.000 gestiegen, im Jahr 2000, zum Zeitpunkt der glücklosen Verhandlungen von Camp David, gab es bereits 200.000 Siedler. Heute leben 270.000 Siedler in 140 über das gesamte Westjordanland verstreuten Siedlungen. Zu jeder von ihnen gehört ein Netz von Kontrollpunkten und „Umgehungsstraßen“, die nur von Siedlern und von der Armee benutzt werden dürfen und die das Westjordanland weiter zerstückeln.

Israels Rechte will mehr Siedlungen und ein Friedensabkommen verhindern

Das Wachstum der Kolonien ist ein Sieg der Ideologie der rechtsgerichteten Likud-Partei. Sie will das Westjordanland mit so vielen Juden bevölkern, dass es für jede israelische Regierung politisch unmöglich wird, als Teil eines Friedensabkommens einen bedeutsamen Rückzug zu unternehmen. Welche israelische Regierung würde es beispielsweise wagen, die Siedlung Ariel aufzulösen, die tief im Westjordanland liegt? Ariel allein hat doppelt so viele Einwohner, wie 2005 im Rahmen des israelischen Rückzugs aus dem gesamten Gaza-Streifen geholt wurden. Selbst für eine für die Palästinenser akzeptable Lösung müsste Israel immer noch zehntausende Siedler aus dem Westjordanland abziehen.

Andererseits weiß die israelische Rechte, dass kein anerkannter Palästinenserführer ein Friedensabkommen unterzeichnen würde, das nur Fragmente des Westjordanlandes umfasst. Das Ziel der israelischen Rechten besteht darin, ein echtes Friedensabkommen zu blockieren und die Kontrolle Israels über das Westjordanland zu sichern. Der beste Weg dahin besteht darin, eilig Siedlungen zu bauen. Genau das geschieht seit 1981. Damals lebten weniger als 20.000 Siedler im Westjordanland.

Offiziell akzeptiert die israelische Regierung die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung. Doch sie unternimmt immer wieder Schritte, die eine solche Lösung erschweren. Seit der Konferenz in Annapolis (USA) im vergangenen November, dem Auftakt der Friedensbemühungen für dieses Jahr, hat die Regierung von Ministerpräsident Ehud Olmert den Bau von Wohnungen für Tausende weiterer Siedler angekündigt. Zwar heißt es, man wolle Präsident Abbas unterstützen. Es wurde bislang aber nichts getan, das harte Leben der Menschen im Westjordanland zu erleichtern. Vor allem jene Siedler, die tief im Innern des Westjordanlands leben und kaum Verbindung zum israelischen Staat haben, behandeln die Palästinenser nach wie vor häufig wie Rechtlose, und die israelische Armee unternimmt kaum etwas dagegen.

Warum besteht ein so offensichtlicher Widerspruch zwischen der erklärten politischen Absicht und den tatsächlichen Handlungen vor Ort? Versucht Israel einfach nur den Rest der Welt hinters Licht zu führen? Die Antwort ist weitaus komplizierter. Zum einen muss man die politische Macht der Siedler bedenken. Die Juden, die außerhalb der Grenzen von 1967 leben, machen inzwischen fast zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels aus; sie haben außerdem Familien und Freunde auf der anderen Seite der Grünen Linie. Das demographische Gewicht der Siedlerbevölkerung lässt sich nicht länger als unwesentlich abtun. Außerdem siedeln immer mehr Angehörige des israelischen Offizierskorps im Westjordanland und schaffen eine mächtige interne Lobby gegen wirksame Schritte zur Schwächung der Siedler: Es ist nicht mehr sicher, dass ein Befehl zur Evakuierung einer großen Zahl von Siedlungen tatsächlich auch befolgt würde. In wesentlichen Teilen von Eretz Israel – dem Heiligen Land – ist der Staat nicht mehr die zentrale Autorität.

Zum anderen muss man die ideologische Bedeutung der Siedlungen in Betracht ziehen, um Israels Lähmung zu verstehen. Hier wird gefragt, inwieweit sich die heutigen Siedler im Westjordanland von den jüdischen Pionieren unterscheiden, die vor einem Jahrhundert in Palästina ankamen; was unterscheidet Hebron von Tel Aviv? Die heutigen Siedler, so wird argumentiert, führen einfach den Siedler-Kolonialismus aus den Anfängen des Zionismus fort. Vor hundert Jahren waren die jüdischen Siedler im überwiegend arabischen Land meistens Sozialisten, heute sind sie religiöse Nationalisten. Doch historisch, so heißt es,  gehe es dem Zionismus um die Besiedlung des Landes mit jüdischen Pionieren, die für weitere Juden den Weg ebnen. Auf diese Weise werde das Land schließlich für alle Juden nutzbar gemacht.

In Israel gibt es widerstreitende Ansichten zum Zweck des jüdischen Staates

Politisch links stehende Israelis lehnen diese Analogie ab, weil sich der Kontext geändert habe: Vor einem Jahrhundert gab es noch keinen israelischen Staat. Dennoch trägt die starke ideologische Anziehungskraft des Siedler-Zionismus angesichts der Wurzeln Israels zweifellos zur ambivalenten Haltung des Landes gegenüber der Siedlergemeinschaft von heute bei.

Noch wichtiger ist, dass sich in Israel heute zwei verschiedene Vorstellungen über den Zweck des jüdischen Staates gegenüberstehen und das Land spalten. Die eine Seite sieht Israel als universalistischen, demokratischen Staat seiner Bürger, vergleichbar den Staaten Europas. Die andere Seite dagegen betont den ethnischen, jüdischen Charakter Israels. Diese ethnische Vorstellung ist entweder religiös oder säkular-nationalistisch fundiert. In beiden Fällen aber treten Demokratie und Nationalität hinter den jüdischen Charakter des Staates zurück. Tel Aviv vertritt heute die universelle Vorstellung von Israel, Jerusalem die parochiale. Solange die Israelis den grundsätzlichen Charakter ihres Staates nicht klären, gibt es kaum Chancen auf einen Konsens über die harten Entscheidungen, die sie für eine Zweistaatenlösung treffen müssten.

Doch wenn nicht alle Parteien im Nahostkonflikt gemeinsam auf einen wirklichen palästinensischen Staat hinarbeiten, dann rückt paradoxerweise jene Lösung immer näher, die fast niemand haben möchte: ein einziger binationaler Staat zwischen Jordan und Mittelmeer. Die Israelis – über das gesamte politische Spektrum hinweg – lehnen einen binationalen Staat ab. Die Palästinenser sind dieser Lösung gegenüber offener, doch auch bei ihnen ist die große Mehrheit für zwei Staaten. Ein palästinensischer Staat entsteht aber nicht von allein; Israel wird dafür schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen.

Aber ist es hierfür schon zu spät? Einige Beobachter glauben, der Rubikon sei bereits überschritten: Die Frage sei nicht länger, ob es einen binationalen Staat geben wird. Tatsächlich gebe es ihn bereits, und es gehe nur noch darum, wie er am besten zu verwalten ist. Es wird aber noch mindestens zwei Generationen dauern, bis diese Realität offiziell akzeptiert wird, wenn sie überhaupt je anerkannt wird. Und bis dahin wird noch viel Blut fließen.

Eine Zweistaatenlösung wird immer unwahrscheinlicher

Wenn jetzt nichts für eine Zweistaatenlösung getan und zugleich ein binationaler Staat abgelehnt wird, gäbe es noch zwei weitere Lösungen, von denen jedoch zivilisierte Nationen keine wählen würden. Die erste läuft auf die ethnische Säuberung des Westjordanlandes hinaus – beziehungsweise auf den „Transfer“ von Palästinensern, wie es im israelischen Sprachgebrauch heißt. Früher hatte diese Idee in Israel nur unter extremen Rassisten Anhänger, heute dagegen hat sie durchaus in der breiten israelischen Gesellschaft Fuß gefasst. Aber ein solcher „Transfer“ würde einfach nicht funktionieren – abgesehen von den offensichtlichen moralischen Einwänden. Es leben elf Millionen Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, fast genau zur Hälfte Juden und Palästinenser. Es ist ein törichter Traum ohne jede Erfolgsaussicht, fünf Millionen Palästinenser oder auch nur einen großen Teil von ihnen aus diesem Land entfernen zu wollen – selbst wenn man sie „ermuntern“ würde zu gehen, statt auf Gewalt zu setzen.

Die zweite und letzte Option ist die dauerhafte Besatzung unter Apartheid-Bedingungen. Als der frühere US-Präsident Jimmy Carter die israelische Politik im Westjordanland mit der Apartheid verglich, wurde er von einigen Seiten scharf kritisiert. Doch Carter hat Recht: Im Westjordanland gibt es zwei Klassen von Menschen mit jeweils eigenen und extrem ungleichen Rechten. Die systematische Diskriminierung der Palästinenser reicht bis zur Frage, welche Straßen für Juden reserviert sind, wer mit welchem Bus fahren darf und wer an Kontrollpunkten anhalten muss. Nach meiner persönlichen Erfahrung in beiden Ländern ähnelt das Westjordanland heute in der Tat stark dem Südafrika der Apartheid-Ära. Kein zivilisiertes Land und kein zivilisierter Mensch sollte die dauerhafte Besatzung als legitime Lösung betrachten.   Aus dem Englischen von Christina Kamp.

Glenn E. Robinson ist Dozent am Fachbereich für Verteidigungsanalysen an der Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien.

welt-sichten 5-2008

 

erschienen in Ausgabe 5 / 2008: Energiepolitik im Süden
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