„Eine Fortsetzung des Kalten Krieges“

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Der Ukraine-Krieg und der globale Süden
Der globale Süden und der Krieg in der Ukraine
picture alliance / ASSOCIATED PR/Manish Swarup
Der russische Präsident Putin und der indische Premier Modi während eines Treffens in Neu-Delhi im Dezember 2021. Seit der russischen Invasion in der Ukraine versucht die indische Regierung, sich möglichst neutral zu verhalten - sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber dem Westen.
Der Ukraine-Krieg und der globale Süden
Ein Gespräch mit dem indischen Entwicklungsökonomen Sachin Chaturvedi über Indiens Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine.

Sachin Chaturvedi ist Direktor des Research and Information System for Developing Countries (RIS), einer Denkfabrik zu Entwicklungsländern in Neu-Delhi. Er ist auch Mitglied des Leitungsgremiums (Board of Governors) der indischen Zentralbank. Eines seiner Fachgebiete sind Süd-Süd-Beziehungen.
In Westeuropa gilt der Krieg in der Ukraine als völkerrechtswidriger Angriffskrieg und als Versuch, die Ukraine als souveränen Staat zu zerstören. Ist das auch die vorherrschende Sicht in Indien?
Man muss den Krieg vor dem Hintergrund des größeren Konfliktes zwischen den USA und Russland sowie der Nato und Russland sehen. In Indien deutet man den Ukraine-Krieg als Konflikt zwischen dem Westen und Russland; die Ukraine ist das Schlachtfeld, auf dem er ausgetragen wird. Das ist eine Art Fortsetzung des Kalten Krieges. Damals standen sich im globalen Machtkampf zwei Ideologien gegenüber, die mit zwei speziellen Regierungssystemen verbunden waren.

Dass der Kommunismus inzwischen tot ist, ändert das nicht?
Nein. Russland sagt, es habe sich der Demokratie und der liberalen Weltordnung zugewandt, aber das stimmt nicht. Und auch der Kapitalismus hat sich seit der Finanzkrise von 2008 stark verändert. Auf beiden Seiten sind die Ideologien nicht mehr leicht einzuordnen, aber das ändert nichts am Machtkonflikt.

Sehen Sie den Krieg in der Ukraine auch im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen den USA und China?
Auf jeden Fall. Und es ist wichtig, dass Indien darin nicht Partei ergreift. Einige Entwicklungsländer haben die Position der USA unterstützt, andere sich in den Vereinten Nationen enthalten und die Rückkehr zum Frieden verlangt. Die Großmächte sollten zusammenfinden und die Lage beruhigen.

Hat Indien sich in der UN-Generalversammlung zur Resolution, die Russland verurteilt hat, auch deshalb enthalten, weil es auf Zusammenarbeit mit Russland angewiesen ist?
Indien pflegt eine lange zurückreichende Partnerschaft mit Russland. Es ist von Moskau in einigen sehr schwierigen Konflikten mit China und Pakistan stark unterstützt worden, während der Westen Indien da alleingelassen hat. Dieses Empfinden der Partnerschaft mit Russland ist in Indien weiter sehr lebendig. Von russischen Energielieferungen hängt Indien aber nicht ab. Und wir setzen uns für Frieden ein. Premierminister Narendra Modi hat Wladimir Putin nahegelegt, Verhandlungen zu beginnen und die Gewalt zu stoppen. Er hat auch öffentlich gesagt, dass es wichtig ist, nicht gleich zu Aggressionen zu greifen – auch während seines Besuchs in Berlin im Mai.

Indien hängt nicht von Energie aus Russland ab, aber ist es auf russische Militär- und Waffentechnik angewiesen?
Ja. Aber unter dem "Made in India Programme", das Premierminister Modi für Verteidigung auf den Weg gebracht hat, hat Indien seine Abhängigkeit von Waffen- und Munitionsimporten stark verringert. Und der Anteil an russischen Militärgütern, die Indien importiert, ist von 87 Prozent 2005 auf jetzt 48 Prozent gesunken. Der Rückgang wird sich fortsetzen. Indien kann jetzt mehr Militärgüter selbst produzieren und einige westliche Länder sind im Gespräch mit Indien, um das weiter zu erleichtern.

Europa, die USA und einige andere Länder wie Japan haben wegen des Krieges beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Wird das in Indien als legitim und richtig angesehen?
Wir sehen die Sanktionen als Verschärfung des Konflikts. Dass er lang andauern kann, macht uns zunehmend Sorgen. Die Bilder aus der Ukraine sind verstörend. Premierminister Modi hat zweimal mit Präsident Zelenskij telefoniert und besprochen, wie Indien unterstützen kann. Aber die Sanktionen und die Waffenlieferungen an die Ukraine halte ich für eine Verstärkung des Einsatzes in dem Konflikt, bei dem es sich wie gesagt um einen zwischen zwei weltpolitischen Lagern handelt.

Wird Indien aus dem Westen unter Druck gesetzt, sich den Sanktionen anzuschließen?
Bisher ist das nicht offiziell diskutiert worden. Neu-Delhi folgt weder den Sanktionen des Westens noch dem Wunsch Russlands nach Hilfe dafür, Sanktionen zu umgehen. Moskau hat den Wunsch geäußert, sich nach dem Ausschluss aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT dem digitalen Zahlungssystem anzuschließen, das Indien als Parallele zu SWIFT entwickelt hat. Indien hat dem nicht zugestimmt. Das Land schlägt einen sehr, sehr heiklen Weg der Distanz zu beiden Seiten ein. Das entspricht im Großen und Ganzen der Stimmung in der Bevölkerung.

Indien hat ein eigenes Zahlungssystem, das international genutzt wird?
Nein. Indien hat wie China ein System für den Zahlungsverkehr zwischen Banken, aber nur für Transfers im Inland – dafür nutzen wir nicht SWIFT, sondern unser eigenes System. Das entsprechende russische System scheint zusammengebrochen zu sein und Moskau hat Indien um einen Mechanismus zum digitalen Zahlungstransfer zwischen Banken gebeten. Unser System ist sehr robust, auf Indien entfallen heute fast zwei Fünftel der inländischen digitalen Geldtransaktionen weltweit.

Könnte man dieses indische System für internationalen Zahlungsverkehr nutzen?
Ja, wenn wir es öffnen würden, wäre das möglich.

Friedensdemonstration im indischen Bhopal/ Madhya Pradesh im Februar: Die Menschen beten für Frieden und die sichere Heimkehr indischer Staatsangehöriger aus der Ukraine.

Spüren Sie in Indien Folgen des Krieges und der Sanktionen, zum Beispiel bei Nahrungsmittelpreisen?
Die Nahrungs- und Energiepreise sind weltweit angestiegen und das trifft natürlich auch Indien. Die Inflation im Land ist um 2,5 Prozent angestiegen über die 6 Prozent hinaus, die wir schon vor dem Krieg hatten.

Ein importierter, vom Preis der Einfuhren bedingter Inflationsanstieg?
Genau. Und das wirkt sich auf alle Wirtschaftsbereiche aus. Das ist eine schwierige Lage, wir müssen die hohe Inflation unter Kontrolle bringen. Die Zentralbank, deren Rat ich angehöre, hat im Mai bereits beschlossen, den Zinssatz anzuheben.  

Wirkt sich der Krieg auch auf Indiens Sicherheitslage in Asien auf?
Sicher. Der Krieg hat China und Russland enger zusammengebracht, und sie kooptieren Länder wie Pakistan. Die enge Verbindung Chinas zu Pakistan wird für Indien problematisch, es geht da auch um Unterstützung für Islamisten und Terrorismus. Zudem trifft die Wirtschaftskrise die ganze Region Südasien, zum Beispiel Sri Lanka und Nepal.

In Europa sehen viele den Krieg als Auftakt zu einem globalen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie. Trifft das zu?
Ich denke, es ist nicht mehr möglich, diese beiden Lager eindeutig zu unterscheiden. China zum Beispiel behauptet, es habe demokratische Institutionen und eine Zivilgesellschaft. Gerade hat mich Peking, das zurzeit die Präsidentschaft der BRICS-Gruppe innehat, zu einem BRICS-Forum der Zivilgesellschaft eingeladen. Wir stehen alle vor enormen Aufgaben der Global Governance und müssen zusammenkommen, um zum Beispiel die Agenda 2030 und die UN-Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Der Raum für diese Zusammenarbeit wird immer mehr eingeengt. Alle Länder müssen danach streben, so gut wie möglich zusammenzuarbeiten – egal welche Regierungsform sie haben mögen.

Wenn die USA und Europa den Konflikt als einen zwischen Demokratie und Autokratie angehen, verringern sie die Chancen, globale Probleme zu bewältigen?
Richtig. Es geht um gemeinsame Probleme der Menschheit wie den Klimawandel, die Agenda 2030 oder auch wirtschaftliche Fragen. Viele Menschen in Entwicklungsländern sind infolge der Corona-Pandemie wieder unter die Armutsgrenze gedrückt worden und nicht alle Länder konnten sich wie Indien, das eine eigene Impfstoffproduktion hat, Impfungen leisten. Es geht um globale öffentliche Güter. Die sich abzeichnende Konfrontation geht auf Kosten der Möglichkeiten, die bereitzustellen.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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ein sehr aufschlussreiches interview!
vielen dank dafür.

was die herausforderungen unserer zeit angeht:
die "entwestlichung" der welt ist in vollem gang.
500+ jahre kolonialer herrschaft des westens gehen zu ende.
die BRICS-staaten tragen zunehmend zum globalen BIP bei.

der "ewige hegemon" USA ["die einzige unverzichtbare nation",
wie auch barack obama sie nannte] droht platz eins zu verlieren
und möchte das möglichst lange hinauszögern.
dazu gehört[e] auch, unbedingt zu verhindern, dass europa und russland
einander näher kommen, ,eurasien einig!' wäre das ende der US-hegemonie.

- zbigniew brzezinsky schrieb bereits 1997,
die ukraine müsse bis 2010 teil europas werden,
um russland weiter zu schwächen.
- die US-einmischung in der ukraine im jahr 2014,
- die tatsache, dass der von den USA eingesetze präsident selenskij
sich nicht an die minsker abkommen gehalten hat,
- stimmen in den USA, die finden, die ukraine müsse "afghanistan_2"
werden, ebenfalls zur weiteren schwächung russlands,
- 14.000[?] menschenleben, die die kämpfe in der ostukraine
seit 2013/14 gefordert haben ...
aspekte, die in der allgemeinen wut auf putin selten zur sprache kommen.

natürlich ist sein angriff auf die ukraine SCHARF zu verurteilen!
natürlich sind kriegsverbrechen SCHARF zu verurteilen.
hat ,der westen' wirklich nicht gemerkt, was putin im schilde führt?
bei aller heute verfügbaren hochmodernen abhör-/spionage-maschinerie?
will der westen wirklich ausblenden, wie viele kriegsverbrechen er begeht?
[will er julian assange tatsächlich seinem schicksal überlassen?]

jetzt, da ein krieg vor der haustür der europäer stattfindet,
werden ihnen eklatante versäumnisse offenbar.
jahrzehntelang wäre zeit gewesen, den warnungen des club of rome [1972]
taten folgen zu lassen. stattdessen ging's "höher, schneller, weiter, wie bisher!"

dass der globale süden so stark von den folgen des kriegs in der ukraine
betroffen ist, ist fatal. dass er sich nicht uneingeschränkt an sanktionen
gegen russland beteiligen will, zeigt den europäern vielleicht endlich:
"jetzt spürt ihr, wie's ist, wenn in eurer unmittelbaren nähe krieg geführt wird.
erkennt ihr jetzt endlich auch, dass wir eure stellvertreterkriege SATT HABEN?"

wer allerdings neuerlicher aufrüstung mehr raum gibt als diplomatie und abrüstung,
der sollte vielleicht albert einsteins feststellung bedenken, der zufolge ein problem
sich nie durch die denkweise lösen lässt, durch die es einst entstanden ist.

aber auch hier bleibt die frage: was will ,der westen’ wirklich?

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