„Der Premierminister ist nicht allein schuld an dem Krieg“

Getty Images/J. Countess
Durch den blutigen Bürgerkrieg sind die Krankenhäuser voll mit Verletzten. Dieser Mann hat mit den Afar Special Forces gegen die TPLF gekämpft.
Äthiopien
Vor knapp zwei Jahren marschierte die äthiopische Armee in die Region Tigray im Norden des Landes ein, um die Regierung dort abzusetzen. Jetzt schweigen seit März die Waffen, beide Seiten wollen Friedensgespräche. Mit Aussicht auf Erfolg? Der Politikwissenschaftler Bizuneh Getachew Yimenu erklärt die Lage.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Berichterstattung untergehen.

Bizuneh Getachew Yimenu lehrt Politikwissenschaften an der School of Politics and International Relations der University of Kent in Canterbury, England.
Wird derzeit inTigray gekämpft?
Nach meinen Informationen gibt es keine Kämpfe zwischen der TPLF und der äthiopischen Bundesregierung und ihren Verbündeten. Es fließt auch humanitäre Hilfe nach Tigray.

Reicht die Hilfe, um die notleidende Bevölkerung zu versorgen?
Schwierig zu sagen, weil es keine zuverlässigen Zahlen gibt, wie viele Menschen in Tigray Hilfe brauchen. Laut Berichten hält die Regierung sich aber an die Zusage, so viel wie nötig in die Region zu lassen, und es gibt diesbezüglich auch keine Beschwerden von der TPLF. Sie klagt aber, es komme nicht ausreichend Treibstoff an.

Es gab Beschwerden der TPLF, die Bundesregierung missbrauche humanitäre Hilfe, um Kriegsziele zu erreichen.
Vor dem seit März geltenden Waffenstillstand hat Tigray der Regierung vorgeworfen, sie verlange von der Bevölkerung, sie solle sich ergeben, bevor sie Hilfe bekommt. Seit dem Waffenstillstand wiederum beschwert sich die Regierung, die TPLF leite die Hilfe an die eigenen Soldaten weiter und nicht an die bedürftige Bevölkerung. Beide Seiten machen sich also gegenseitig Vorwürfe. Vor kurzem etwa hat die Bundesregierung die TPLF beschuldigt, sie habe ein Flugzeug mit Hilfsgütern in Tigrays Hauptstadt Mekelle nicht landen lassen. Darauf erklärte ein TPLF-Sprecher, der Flughafen sei geschlossen, weil es nicht ausreichend Treibstoff gebe.

Jetzt haben beide Seiten angekündigt, für Friedensgespräche offen zu sein. Ist das glaubhaft?
Ja, Premierminster Abiy Ahmed hat vor kurzem im Parlament erklärt, es sei ein Komitee eingerichtet worden, das den Friedensprozess und die Gespräche mit der TPLF voranbringen soll. Abiy hat gesagt, er wolle den Konflikt friedlich lösen, weil der Krieg das Land zerstöre. Auch Tigray hat erklärt, es wolle Verhandlungen. Regionalpräsident Debretsion Gebremichael hat gegenüber der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen gesagt, er sei bereit zu Friedensgesprächen in Nairobi.

Was werden die schwierigsten Verhandlungspunkte?
Das Schwierigste wird sein, überhaupt Vertrauen zwischen den Konfliktparteien herzustellen. Es gibt wegen der Gräueltaten beider Seiten seit Beginn des Krieges Ende 2020 sehr viel Misstrauen - und das wirkt sich schon auf die Frage aus, wo Friedensgespräche stattfinden sollten. Der frühere nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo, der für die Afrikanische Union in dem Konflikt vermittelt, hat laut Medienberichten vorgeschlagen, die Gespräche sollten in Arusha in Tansania stattfinden. Damit ist die TPLF nicht einverstanden, denn ihrer Ansicht steht Obasanjo als AU-Gesandter der äthiopischen Bundesregierung zu nahe. Die TPLF will in Nairobi in Kenia verhandeln, und meines Wissens wünschen sie sich den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta als Vermittler, der bereits mehrmals nach Addis Abeba gereist ist und mit Premier Abiy über den Friedensprozess gesprochen hat.

Und wenn diese Fragen einmal geklärt sind?
Inhaltlich wird der schwierigste Verhandlungspunkt die Zukunft von West-Tigray sein, das Milizen aus der Region Amhara im Laufe des Krieges besetzt haben und für sich reklamieren. Die TPLF hat bereits erklärt, dass das für sie nicht akzeptabel ist und sie nicht darüber verhandeln wird. Dazu kommt, dass West-Tigray auch für die Bundesregierung sehr wichtig ist, weil es an den Sudan grenzt: Wenn die TPLF das kontrolliert, hat sie die Möglichkeit, sich über den Sudan Unterstützung ins Land zu holen, etwa Waffen und andere Ausrüstung.

Welche Position vertritt Premier Abiy zu West-Tigray?
Als Abiy ungefähr ein Jahr vor dem Krieg auf das umstrittene Gebiet angesprochen wurde, hat er gesagt, sein Interesse sei es, solche Gebietsstreitigkeiten friedlich gemäß der Verfassung zu klären. Solche Streitigkeiten um umstrittene Gebiete gab es in Äthiopien ja früher schon, und es gibt ein Verfahren, wie das House of Federation, die zweite Parlamentskammer, damit umgehen soll. Der Krieg hat Amhara die Gelegenheit gegeben, West-Tigray zu besetzen. Ich denke nicht, dass Abiy bereit ist, das einfach hinzunehmen, weil das Ursache für künftige Konflikte sein und die aktuellen Friedensbemühungen berühren könnte. Auf der anderen Seite will er das umstrittene Gebiet auch nicht einfach Tigray überlassen. Ein Ausweg könnte sein, dass die Bundesregierung West-Tigray für eine Übergangszeit verwaltet, bis sie ausreichend Vertrauen in die TPLF hat, Tigray wieder voll in Äthiopien integriert ist und die Frage schließlich gemäß der Verfassung geklärt werden kann.

Wie schätzen Sie Abiy Ahmed ein? Er wurde ja erst von vielen als Hoffnungsträger gefeiert, dann galt er als skrupelloser Kriegstreiber.
Schwierige Frage. Abiys Bilanz im ersten Jahr seiner Amtszeit kann sich sehen lassen. Da war er auf dem Weg, Äthiopien zu einem friedlicheren Land zu machen, nicht nur mit Blick auf den Friedensschluss mit Eritrea, für den er den Friedensnobelpreis bekommen hat, sondern auch innenpolitisch. Wenn er es schafft, mit Tigray Frieden zu schließen, und zugleich andere politische Probleme anpackt, könnte er wieder auf diesen Pfad einschwenken. Auf der anderen Seite sind die Probleme sehr groß: Für die TPLF, die in Äthiopien fast 30 Jahre lang das Sagen hatte, bis Abiy an die Macht kam, bedeutete der Kurs des Premierministers einen Machtverlust, worüber sie natürlich nicht glücklich war. Abiy hat alles versucht, den Krieg zu vermeiden, aber vielleicht hat er den Bogen etwas überspannt und die TPLF zu sehr bedrängt. Im Parlament hat er den Krieg vor kurzem noch einmal als notwendige Antwort auf den Angriff der TPLF auf einen Armeestützpunkt vor fast zwei Jahren bezeichnet. Das heißt nicht, dass Abiy allein schuld ist an dem Krieg. Als die TPLF Ende 2020 den Armeeposten angriff, rechtfertigte sie das mit präventiver Selbstverteidigung, da ihrer Ansicht nach die Bundesregierung kurz davor stand, Tigray anzugreifen.

Wie soll Abiy mit Eritrea und seiner Rolle im Krieg gegen Tigray umgehen?
Das Problem ist, dass der Friedensschluss zwischen beiden Ländern aus Abiys erstem Jahr im Amt nicht institutionalisiert, sondern letztlich eine persönliche Abmachung zwischen Abiy und dem eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki ist. Jedes Mal also, wenn sich das Verhältnis der beiden zueinander verschlechtert, droht neuer Konflikt zwischen den Ländern. Eritrea hat Abiy geholfen, die TPLF zu bekämpfen, aber jetzt stehen eritreische Soldaten in Tigray - und das ist ein Problem für Abiy: Auf der einen Seite muss er die territoriale Souveränität Äthiopiens schützen, auf der anderen möchte er die Unterstützung des eritreischen Präsidenten nicht verlieren. Sobald zwischen der Bundesregierung und der TPLF eine Lösung gefunden ist, wird Abiy auch mit Eritrea verhandeln müssen.

Fällt Abiy jetzt auf die Füße, dass er Eritrea eingeladen hat, mit ihm gegen die TPLF zu kämpfen?
Ja, ein Stück weit schon. Die TPLF will die eritreische Armee aus Tigray raus haben, ebenso wie die amharischen Milizen. Letzteres bekommt Abiy vielleicht noch hin, aber viel schwieriger ist es, die Armee eines anderen Staates aus dem Land zu kriegen. Im schlimmsten Fall kommt es erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Äthiopien und Eritrea. Aber das ist schwer zu prognostizieren, weil wir nicht wissen, was Abiy und Isaias miteinander besprechen.

Wenn der Krieg in Tigray einmal vorbei ist: Wie lassen sich gewaltsame Konflikte im Vielvölkerstaat Äthiopien künftig verhindern?
Der Föderalismus hat in Äthiopien bis etwa 2015 alles in allem ganz gut funktioniert, um mit der ethnischen Vielfalt umzugehen. Dann gab es mehr und mehr Proteste und die Regierungspartei EPRDF fiel auseinander. Als Abiy 2018 an die Macht kam, hat er versucht, die Interessen der verschiedenen ethnischen Gruppen und der Regionen auszubalancieren. Das sollte auch in Zukunft im Mittelpunkt stehen. Das kann aber nicht gelingen, wenn die Regierung gleichzeitig gegen Rebellengruppen wie die TPLF oder die Oromo Liberation Army Krieg führt. Diese Gruppen sollten also der Gewalt abschwören und an den Verhandlungstisch kommen. Zugleich sollte die Regierung sie nicht weiter als terroristische Organisationen einstufen und einen landesweiten Versöhnungsprozesse starten. Ziel muss sein, die nationale Einheit und Solidarität zu stärken, ohne die Autonomie der Regionen zu beschneiden. Verschiedene Gruppen, die noch mehr Autonomie wollen, werden sich an den Rand gedrängt fühlen, wenn die Regierung nach mehr Macht strebt oder den Föderalismus aushebeln will. Ganz wichtig: Die Sicherheit der Bevölkerung muss an erster Stelle stehen; keine Konfliktpartei darf Zivilisten angreifen.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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