„Die Täter gehen sehr gezielt vor“

„Die Täter gehen sehr gezielt vor“

Auch in der humanitären Hilfe gibt es sexuellen Missbrauch von Kindern

Das Ausmaß, in dem Kinder und Jugendliche von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen sexuell missbraucht werden, ist „signifikant“. Zu diesem Befund kommt die britische Organisation „Save the Children“ in einer neuen Studie mit dem Titel „No One To Turn To“. Der Bericht beruht auf Recherchen in Haiti, der Elfenbeinküste und im Südsudan. Boris Scharlowski, der Leiter der Kinderschutz-Abteilung der Christoffel-Blindenmission (CBM), erläutert, was Hilfsorganisationen zur Vorbeugung unternehmen sollten.

Wie bewerten Sie den Befund der Studie von „Save the Children“?

Die Fakten, die der Bericht zusammenträgt, sind erschreckend aber nicht neu. Seit den späten 90er Jahren ist das Problem bekannt. Es gab damals die ersten Berichte über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen aus den Reihen der UN-Blauhelme, und spätestens seit einem Fall in einem Projekt von Terre des Hommes in Äthiopien ist klar, dass sexueller Missbrauch ein Problem nicht nur der UN-Friedenstruppen, sondern auch der humanitären Hilfe ist.

„Save the Children“ berichtet von acht Verdachtsfällen in den eigenen Reihen, von denen drei im Laufe der hausinternen Ermittlungen bestätigt und sanktioniert wurden. Ist das ein Erfolg oder eher ein Rückschlag?

Es ist in jedem Fall ein Erfolg, wenn Missbrauchsfälle aufgedeckt und bewiesen werden können. Denn das heißt, dass das hausinterne Fallmanagement gut funktioniert hat. Es ist schwierig, überhaupt einen Verdacht zu äußern. Denn immerhin geht es um die eigenen Kollegen, mit denen man bisher vielleicht gut zusammengearbeitet hat oder sogar freundschaftlich verbunden war. Die Täter gehen zudem sehr gezielt vor – sie verwischen ihre Spuren und setzen ihre Opfer unter starken Druck. Deshalb sind Schulungen notwendig, wie Interviews mit mutmaßlichen Opfern zu führen sind. Und es bedarf klarer Standards, die zum Beispiel im Verdachtsfall die vorläufige Suspendierung der verdächtigen Person vorsehen und die gleichzeitig klar machen: Das ist noch keine Vorverurteilung, sondern ein Standardprozedere.

Muss jede Organisation damit rechnen, dass in ihren Reihen Missbrauch vorkommen kann?

In jeder Organisation, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, kann es Missbrauch geben. Jede Organisation, die Fachleute aussendet, muss davon ausgehen, dass diese vor Ort mit Kindern in Kontakt kommen – egal, ob auf professioneller oder privater Ebene. Die Gefahr des Missbrauchs gibt es in Hilfsorganisationen wie in jeder anderen Institution, die mit Kindern zu tun hat. Bloß wurde in der Entwicklungszusammenarbeit lange Zeit gesagt, das sind doch die „Gutmenschen“, die mit den guten Absichten.

Wandelt sich diese Einstellung?

Ja, auch in Deutschland – wo die Diskussion der angelsächsischen Debatte eher hinterherhinkt – werden jetzt immer mehr Organisationen aktiv und fragen uns bei der CBM nach unseren Erfahrungen mit Gegenmaßnahmen. Vor einem Jahr etwa haben wir uns deshalb gemeinsam mit der Karl-Kübel-Stiftung an den Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) gewandt, um unsere Expertise auf diesem Gebiet weiterzuvermitteln und den Kindesschutz in deutschen NGOs auch institutionell zu verankern. Mittlerweile hat eine Arbeitsgruppe ein Grundsatzpapier erarbeitet, das die VENRO-Mitgliederversammlung im Dezember verabschiedet hat. Jetzt soll die VENRO-Arbeitsgruppe Kinderrechte der nächsten Mitgliederversammlung den Entwurf für einen Kodex vorlegen.

Viele der großen Nothilfe-Organisationen haben bereits Verhaltenskodizes, aber das scheint wenig zu bewirken...

Man kann natürlich sagen, ein Verhaltenskodex ist zunächst nur ein Stück Papier, und wer schlechte Absichten verfolgt, wird ein solches Papier vielleicht sogar als Erster unterschreiben. Aber andererseits unterschreiben auch alle anderen Kollegen und werden zu Vertretern des Kinderschutzes. Denn ein solcher Kodex stellt klar, welches Verhalten tolerabel ist und welches nicht. Zum Beispiel ist es durchaus schon verdächtig, wenn ein Mitarbeiter regelmäßig anzügliche Witze in Anwesenheit von Kindern macht. Im Verhaltenskodex der CBM sagen wir eindeutig, dass das nicht tolerabel ist und dass mit dem Mitarbeiter dann ein Gespräch über sein Verhalten zu führen ist. Gleichzeitig kommt es aber darauf an, dass der Kodex Teil eines umfassenderen Kindesschutzsystems ist, das beispielsweise Regeln für die Personalauswahl und Vorgaben zum Management von Verdachtsfällen umfasst. Die Christoffel-Blindenmission macht bei ihren über 800 Partnerorganisationen die Existenz von Kindesschutzrichtlinien mittlerweile zur Voraussetzung für eine weitere finanzielle Förderung. Allerdings lassen wir unsere Partner dabei nicht allein, sondern bieten ihnen Trainings und Schulungen an. Diese Angebote sowie weitere Maßnahmen können dazu beitragen, das Risiko von Kindesmissbrauch wesentlich zu reduzieren.

Das Gespräch führte Bettina Stang.

Boris Scharlowski ist Leiter der Kinderschutz-Abteilung der Christoffel-Blindenmission

welt-sichten 8-2008

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2008: Die Macht der Religionen
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