Bei den WTO-Verhandlungen in Genf war von Entwicklung kaum mehr die Rede
Die Ministerrunde, die in Genf die 2001 begonnene Verhandlungsrunde über multilaterale Handelsregeln zum Abschluss bringen sollte, konnte sich Ende Juli nicht einigen. Dieser Versuch, den Welthandel weiter zu liberalisieren, ist vorerst gescheitert. Nichtstaatliche Organisationen (NGO) befürchten nun aber erhöhten Druck auf die Länder des Südens, regionale oder bilaterale Freihandelsabkommen zu schließen.
Die kleineren Länder waren nicht gefragt, als eine vom Direktor der Welthandelsorganisation (WTO) Pascal Lamy handverlesene Ministerrunde mit Vertretern aus zuerst 35, dann nur noch 7 Staaten über den von Lamy vorgelegten Kompromisstext feilschte. Die USA, die EU, Japan, Australien, Brasilien, Indien und China verhandelten stellvertretend für den Rest der Welt. Die übrigen der 153 WTO-Mitglieder, von denen viele sogar ihre Minister nach Genf geschickt hatten, mussten im Wartezimmer bleiben.
Doch die sieben Großen konnten sich nicht einigen. Die Gespräche in Genf scheiterten am 29. Juli am Streit darüber, inwieweit es Entwicklungsländern erlaubt sein soll, ihre Bauern mit speziellen Schutzmaßnahmen gegen wachsende Importe einzelner Agrargüter zu schützen. Indien und China bestanden darauf, dies zuzulassen, während die USA darin einen Rückschritt sahen. Sie forderten, die Märkte in Asien etwa für Reis- und Baumwollimporte weiter zu öffnen.
Das war aber nicht der einzige Streitpunkt. Die Industrieländer geißelten unisono die „Unnachgiebigkeit“ Indiens und Chinas, ihre Märkte für Industriegüter und Dienstleistungen zu öffnen. Länder des Südens hingegen protestierten gegen die „völlig unzureichenden“ Angebote für die Verminderung der Agrarsubventionen in den Industrieländern und für den Marktzugang im Norden, vor allem in Bezug auf Agrarprodukte.
Die Industrieländer waren auch untereinander zerstritten. Innerhalb der Europäischen Union (EU) wachte Frankreich im Namen einer Gruppe von neun EU-Ländern darüber, dass EU-Handelskommissar Peter Mandelson nicht einen Millimeter von der vorher mühsamen gezogenen Agrarfront abweichen würde. Die deutsche und die britische Regierung hätten möglicherweise im Austausch gegen Vorteile für ihre Industrieexporte bei der Landwirtschaft mehr zugestanden. Die EU hielt zudem das Angebot der USA für unzureichend: Die US-Unterhändlerin Susan Schwab war bereit, die Obergrenze für den Teil der Agrarsubventionen in den USA, der unter WTO-Regeln als handelsrelevant gilt, auf 14,5 Milliarden US-Dollar zu senken. Die USA hatten schon im September 2007 eine Obergrenze von 15 Milliarden (statt wie zuvor 17 Milliarden) angeboten – im Austausch gegen weitergehende Senkungen der Agrarzölle der EU. Die tatsächlich gezahlten US-Agrarsubventionen liegen wegen der hohen Marktpreise für Agrargüter jetzt bei rund 7 Milliarden US-Dollar. Über die heimische Förderung für Baumwollfarmer wollte Schwab schon gar nicht reden lassen.
Die Industrieländer forderten von den Schwellen- und Entwicklungsländern, ihre Zollsätze für Industriegüter stark zu senken. Zudem wurden die Kriterien für den „Besonderen Schutzmechanismus“ (SSM, special safeguard mechanism), mit denen sich arme Länder gegen Importfluten bei Produkten von Autos bis Tomatenmark wehren dürfen, so eng gezogen, dass aufkommenden Industrien keine Handhabe gegen Marktoffensiven aus dem Ausland bleiben würde. Dies war bis zuletzt strittig. Eine „pure Katastrophe“, kommentierte etwa Zwelinsima Vavi vom südafrikanischen Gewerkschaftsbund COSATU: Wäre der Kompromiss angenommen worden, hätte der größte Teil der Textilindustrie in Südafrika schließen müssen.
Mechanismen zur Förderung des industriellen Aufbaus in Entwicklungsländern waren 2001 ein Anlass für die Doha-Runde. Doch in den Verhandlungen auf Beamten- und Expertenebene sind seitdem immer mehr Sonderregeln für spezielle Güter, sensitive Bereiche und sektorale Ausnahmen in die Entwurftexte eingebracht worden, die zudem von Land zu Land verschieden sind. Dadurch seien, so das von NGOs getragene Institute for Agriculture and Trade Policy in den USA, die Vorlagen „zu einem wirren Durcheinander“ geraten, statt Klarheit und Transparenz in die Handelsregeln zu bringen. Nach Ansicht von Boliviens Präsident Evo Morales ist vom Konzept der wirtschaftlichen Entwicklung, zu dem der Handel beitragen sollte, nichts mehr übrig. Die Doha-Runde habe sich überholt.
Seit Doha 2001 habe sich die Welt verändert, unterstreicht Aileen Kwaa vom Genfer Büro des Netzwerks „Focus on the Global South“: Die Schwellenländer haben sich in der „Gruppe der 20“ zusammengeschlossen, die Entwicklungsländer in der „G90“. Bei allen wächst der Unmut über den Versuch der Industrieländer, in Hinterzimmer Regeln in ihrem Sinne zu beschließen, die alle anderen dann hinnehmen müssen. Insofern war das Scheitern in Genf eine Niederlage des Neoliberalismus: Dessen Regeln für die Globalisierung lassen sich nicht mehr so leicht durchsetzen. Zugleich stehe zu befürchten, dass die wirtschaftlich Schwächsten nun auf anderem Wege unter Druck geraten, warnen Oxfam, War on Want und ActionAid. Der Präsident des Netzwerks katholischer Entwicklungsorganisationen CIDSE, René Grotenhuis, sieht nun die Gefahr, dass die Alternative zur WTO – nämlich bilaterale oder regionale Handelsregeln – „zur Umsetzung noch weiter gehender Liberalisierungen führen, die schon zuvor in der WTO zurückgewiesen worden sind“. Das könne für Entwicklungsländer noch schlimmere Folgen haben.
Heimo Claasen
welt-sichten 8-2008