Europas neue Sklaven

Einer der Arbeitsmigranten füttert in dem Camp in Campobello di Mazara im Westen Siziliens junge Lämmer.
Kate Stanworth
Einer der Arbeitsmigranten füttert in dem Camp in Campobello di Mazara im Westen Siziliens junge Lämmer. Die meisten Bewohner des "Ghettos" sind Muslime und schlachten deswegen ihr eigenes "Halal"-Fleisch.
Menschenrechte
Die rechte Regierung Italiens wendet sich gegen Zuwanderer. Zugleich ist die Landwirtschaft des Landes davon abhängig, dass sie Migranten ohne Papiere unter menschenunwürdigen Bedingungen ausbeuten kann. 

Es ist ein schwüler Morgen in Campobello di Mazara im Westen Siziliens. Olivenbäume umgeben die Kleinstadt und ziehen sich in langen Reihen bis hin zur Küste und zum türkisblauen Mittelmeer – ein Idyll wie aus dem Bilderbuch. Nicht weit vom Stadtrand aber liegt, ganz unidyllisch, ein trostloses Behelfslager, genannt „Ghetto“, für Hunderte afrikanischer Migranten. Die meisten von ihnen stammen aus Gambia, Mali, Senegal oder Tunesien. Ähnliche „Ghettos“ gibt es auch in anderen Teilen Italiens, etwa in Apulien, das auf der Landkarte am Absatz des Stiefels liegt.

In diesen informellen Siedlungen, die Flüchtlingslagern ähneln, leben Wanderarbeiter, das Rückgrat des italienischen Agrarsektors. Sie pflücken Oliven, ernten Tomaten, säen und bewässern die Felder. Zwischen 450.000 und 500.000 Migranten sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) in der italienischen Landwirtschaft tätig. Sie stellen rund die Hälfte der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Der Sektor ist extrem abhängig von gering qualifizierten Arbeitskräften und einer der wenigen Bereiche, in denen Migranten leicht Beschäftigung finden können. 

Campobello heißt auf Italienisch „schöne Landschaft. Doch in der Siedlung sieht man vor allem Hütten mit nur einem Raum, errichtet aus Sperrholzresten, Plastikplanen und leeren Olivenöl-Kanistern. Die Menschen im Lager misstrauen Außenstehenden und möchten lieber nicht reden. Ein älterer Senegalese wäscht mit bloßen Händen in einem Topf mit schmutzigem Wasser Lammfleisch fürs Mittagessen. Ein anderer Mann trägt ein geschlachtetes Lamm auf den Schultern; ein dritter füttert Lämmer mit Milch aus einer Plastikflasche. Um sie herum stapeln sich alte Matratzen und Holztüren. Daneben stehen ein paar Einkaufswagen aus dem Supermarkt, in denen sich verrottende Schafsdärme, Innereien und Haut stapeln, von Fliegenscharen umhüllt wie von einer dicken Decke. Der schlammige Boden ist mit einer Mischung aus Schafsblut, Tierkot und Abfällen bedeckt. 

Der Gestank ist überwältigend

Es gibt ein Restaurant, ein paar winzige Cafés und sogar eine kleine Bar, in der es kühles Bier und Cola gibt. Aus einem großen Fernseher ertönen Afrobeat-Hits, im Moment ein Lied des tansanischen Sängers Diamond Platnumz. Menschen schieben sich in die Bar hinein und wieder hinaus, während Regen auf sie niederprasselt und das behelfsmäßige Dach Regenwasser auf den schlammigen Boden tropfen lässt. Die Menschen hocken dicht aufeinander.

Im hinteren Teil des Lagers gibt es einen offenen Bereich mit Müllhaufen und einer Außentoilette, in der die Bewohner ihre Notdurft verrichten – der Gestank ist überwältigend. Direkt daneben können für einen Euro provisorische Duschräume gemietet werden. Auch einen Eimer Wasser kann man für einen Euro kaufen. 

Kein Wasser, kein Strom, keine Medizin

Das Barackengebäude mit den Duschen hat Boja errichtet, ein gambischer Migrant, der nur seinen Vornamen nennen will. Er kam 2014 nach Italien, um auf den Olivenfeldern zu arbeiten, und lebt seit 2017 im Lager. Dort merkte er, dass er seine Fertigkeiten im Schreinerhandwerk nutzen konnte, um sich zum Baumeister des Camps zu machen. Seitdem hat er viele der Gebäude hier errichtet – auch zahlreiche der Bretterbuden, in denen die Lagerbewohner leben. Er vermietet diese unmöblierten Ein-Raum-Hütten für 100 Euro pro Monat. 

Boja sieht die Menschen im Camp in einer schlimmen Lage, denn sie haben kein Wasser, keinen Strom, keine Kanalisation, keine sauberen Straßen und keine medizinische Versorgung. Um zu kochen und die nächtliche Kälte in Schach zu halten, machen sie Feuer. Trotzdem kommen jedes Jahr um die tausend Migranten in der Gegend von Campobello di Mazara an und füllen dieses und ähnliche Lager. Gegen einen geringen Lohn verdingen sie sich schwarz an windige Leiharbeitgeber. Von September bis November pflücken sie Oliven, von Mai bis Juli ernten sie Tomaten, von August bis September Weintrauben. Andere verkaufen in den Städten Straßenware, arbeiten als Reinigungskräfte oder in Fabriken.

Migranten ohne Papiere arbeiten für 2 Euro die Stunde

Die Bauern in der Region Campobello di Mazara bauen die Nocellara del Belice an, eine der berühmtesten Olivensorten der Welt, von Hand zu pflücken. Die Oliven und die aus ihnen gefertigten Produkte werden in Feinkostläden, Restaurants und Supermärkten von London und Amsterdam bis München verkauft. Die Arbeiter, die die Früchte ernten, sind nicht direkt bei den Landwirten angestellt, sondern bei illegal zwischengeschalteten Vermittlern oder „Gangmastern“. Ein sogenannter „capo“, also Chef, heuert sie im Namen des jeweiligen Landwirts an. 

Autor

Ismail Einashe

stammt aus Somalia und berichtet als freier Journalist unter anderem aus Kenia.
In der Regel gibt es einen „capo nero“ oder „schwarzen Boss“, bei dem es sich normalerweise um einen Migranten handelt, und einen „capo bianco“ oder „weißen Boss“, einen italienischen Vermittler. Der Capo Nero verhandelt direkt mit den Migranten über ihren Lohn, während der Capo Bianco die Beziehungen zu den Landwirten managt. Die große Mehrheit der Wanderarbeiter sind Migranten ohne Papiere, was bedeutet, dass ihre Arbeitskraft für die bäuerlichen Betriebe mit gerade einmal zwei Euro pro Stunde unglaublich billig ist und nicht dem offiziellen Arbeitsschutz unterliegt. Einen nationalen Mindestlohn gibt es in Italien nicht, und da die Beschäftigten ohne Vertrag arbeiten und in der Regel bar bezahlt werden, genießen sie auch keinen gewerkschaftlichen Schutz. 

Das „Ghetto“ von Campobello kann ein sehr gefährlicher Ort sein, sagt Boja. Ständig werde beispielsweise sein Baumaterial gestohlen, das er sich aus Müllcontainern, auf Schrottplätzen oder am Straßenrand zusammensucht. Im Camp gibt es auch ganz offen Drogenhandel und Sexarbeit – selbst die Polizei traut sich nicht hinein. 

Campbewohner fordern Respekt

In der nahe gelegenen Stadt Campobello di Mazara ist es dagegen ungewöhnlich still. Viele Häuser stehen leer: Sizilien ist historisch eine Region der Auswanderer. Etliche Einheimische haben den Ort verlassen, um in Nordeuropa Arbeit zu finden. Nachts aber erwacht die Stadt seit einiger Zeit zu neuem Leben, dank einiger neu eröffneter Pizzabuden und Straßencafés. Gerade sitzen dort tunesische und senegalesische Migranten, rauchen Zigaretten, trinken Kaffee oder Bier. Auf der anderen Straßenseite dröhnt aus einem Club laute Musik. 

Im Oktober, zum ersten Jahrestag eines Brandes im „Ghetto“, bei dem ein junger Migrant zu Tode kam, marschierten um die 60 afrikanische Migranten und italienische Aktivisten durch Campobello di Mazara zum Lager. Sie forderten die italienischen Behörden auf, den Campbewohnern Zugang zu Wasser, Strom und medizinischer Versorgung zu verschaffen. Auch verlangten sie bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sowie legale Dokumente für die Migranten, und vor allem: Respekt.  

Gezwungen, bei extremer Hitze zu arbeiten

Einer derjenigen, die sich damals dem Protestmarsch anschlossen, ist Issa. Der Mann aus Gambia, der nur seinen Vornamen nennen möchte, lebt in Apulien und hat dort zwei Jahre in dem großen „Ghetto“ von Foggia verbracht, einer Unterkunft für rund 1500 Migranten. Die süditalienische Region ist das bedeutendste Anbau- und Erntegebiet für Tomaten in Italien, dem hinter den USA und China drittgrößten Erzeugerland für diese Frucht. In Italien werden 53 Prozent aller auf dem europäischen Kontinent konsumierten Tomaten geerntet.

Issa arbeitet in einer tomatenverarbeitenden Fabrik. Seine Erfahrung hat ihn gelehrt, wie wichtig Solidarität unter den zugewanderten Landarbeitern ist. Er ist Mitglied der 2020 in Apulien gegründeten italienisch-afrikanischen Landwirtschaftsvereinigung, die sich für Wanderarbeiter in der italienischen Lebensmittelindustrie einsetzt. Er sagt, dass Migranten routinemäßig schlecht behandelt werden: „Als Tomatenpflücker musst du zwölf Stunden schuften und bekommst 60 Euro. Die Italiener machen dieselbe Arbeit nur sechs Stunden lang und erhalten das gleiche Geld.“

Migranten würden nicht nur ausgebeutet, sagt Issa. Sie seien auch gezwungen, bei extremer Hitze lange Zeit unter freiem Himmel zu arbeiten. Er erinnert sich, wie sein Capo Bianco ihn eines Tages anrief und ihn fragte: „Wo steckst Du, warum kommst Du nicht zur Arbeit?“ Issa flehte ihn an, dass es in der Sommerhitze zwischen 12 und 16 Uhr zu heiß sei, um Tomaten zu pflücken, aber der Boss ließ nicht mit sich reden. „Er sitzt mit seiner Familie in seinem Haus, wo es schön kühl ist. Du musst arbeiten, egal wie heiß es ist“, sagt Issa. Selbst bei 41 Grad Celsius könne man „auf der Fahrt nach Apulien Afrikaner in landwirtschaftlichen Betrieben ackern sehen“. Dies zeige, dass die afrikanischen Migranten für die Klimakrise in Italien den höchsten Preis zahlen. Sizilien ist das Epizentrum der Hitzewellen in Europa. Im Jahr 2021 wurden hier mit 48 Grad die höchsten jemals auf dem Kontinent gemessenen Temperaturen registriert.

Dabei seien die Menschen, die im Camp leben, gerade vor der Chancenlosigkeit geflohen, die die Umweltkrise in ihren eigenen Ländern geschaffen hat, betont Mustapha Jarjou. Der 24-jähriger Migrant aus Gambia ist Sprecher des Verbands der gambischen Gemeinde in Palermo. Nach seiner Ankunft in Italien im Jahr 2016 hat er im sizilianischen Hinterland zunächst Tomaten geerntet. Er bezeichnet die Arbeiter in Campobello als „die neuen Sklaven Europas“. In Afrika, fügt Jarjou hinzu, glaube man, Europa sei der Ort, „wo die Menschenrechte geachtet werden“. Nach seiner Ankunft in Italien habe er davon jedoch nichts bemerkt. 

UN-Sonderberichterstatterin verurteilt Ausbeutung

Hilal Elver, die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung, hat sich bei einem Besuch in Italien im Januar 2020 gegen die Ausbeutung von Landarbeitern „durch das ausgeklügelte italienische System der Nahrungsmittelerzeugung“ ausgesprochen. Sie verurteilte, wie Migranten ohne Papiere „in einer Zwischenwelt gehalten werden, ohne Zugang zu regulären Arbeitsplätzen und ohne die Möglichkeit, eine anständige Wohnung zu mieten.“ 

Ende 2022 kam ein senegalesischer Arbeiter ohne Papiere, der seinen Namen nicht nennen möchte und mittleren Alters ist, zum ersten Mal in das Lager Campobello di Mazara. Er hatte sich viele Jahre als landwirtschaftlicher Saisonarbeiter in der Toskana durchgeschlagen und auch in Triest gelebt, wo er auf der Straße Taschen oder Schmuck verkaufte. Als er hörte, dass er als Olivenpflücker etwa 60 Euro am Tag verdienen könne, entschloss er sich, sein Glück in der Olivenernte zu versuchen.

Seine 12-Stunden-Schicht beginnt morgens um sechs Uhr, erzählt er. Da er nicht wie andere Migranten pro Stunde, sondern pro Kiste bezahlt wird, rechnet er mit einem Verdienst von fünf Euro für die Kiste Oliven – und will jeden Tag zehn davon füllen. Normalerweise liegt die Entlohnung bei etwa drei Euro pro vollen Kasten, sie ist aber aufgrund des Arbeitskräftemangels und der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie leicht gestiegen. Hart, heiß und kräftezehrend sei diese Arbeit, sagt er – aber die einzige Arbeit, die für Migranten wie ihn zur Verfügung stehe. Er ist fest davon überzeugt, dass die meisten Italiener nicht begreifen, wie wichtig Migranten wie er für ihre Nahrungsmittelversorgung sind. „Ohne uns können sie nicht überleben – wir erzeugen ihre Lebensmittel.“

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

 
Ismail Einashe stammt aus Somalia und arbeitet als freier Journalist. Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von journalismfund.eu erstellt.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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