Alles auf Anfang

In Bolivien bleiben die Fronten verhärtet

Von Jörn Breiholz und Michael Netzhammer

Präsident Evo Morales hat das Referendum über die Fortsetzung seiner Regierung eindrucksvoll gewonnen. Das Land hat er damit jedoch nicht geeint. Die Konflikte mit der Opposition sind nach wie vor ungelöst. Dabei wäre jetzt die Gelegenheit günstig, Zugeständnisse zu machen.

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hat seinem bolivianischen Amtskollegen Evo Morales in den vergangenen Jahren einiges geschenkt: eine Menge Petro-Dollars für den Aufbau des Landes, drei Millionen Energiesparlampen, damit Bolivien keine neuen Elektrizitätswerke bauen muss, und vier Hubschrauber. Überall hinfliegen kann Morales damit allerdings nicht. Denn in weiten Teilen des Landes ist der erste indigene Präsident Boliviens nicht willkommen. Die Androhung von Gewalt auf den Flughäfen war derart bedrohlich, dass Morales lieber zuhause blieb. Doch vielleicht haben ihm seine Gegner damit das Leben gerettet. Denn zumindest zwei der von Chávez überlassenen Hubschrauber sind abgestürzt. Beide Male gab es Tote – und beide Male war Evo Morales erst kurz zuvor ausgestiegen.

Auch die jüngste politische Krise hat der bolivianische Präsident gemeistert. Im August stellte er sich einem Referendum, in dem die Bolivianer über die Frage abstimmen konnten, ob er weiter regieren soll. Die Bevölkerung votierte mit überraschender Zweidrittelmehrheit für Morales und seinen Stellvertreter Alvaro García Linera, den intellektuellen Kopf der Regierung. Morales konnte seine Mehrheit von 54 Prozent bei der Wahl 2005 um 13 Prozent auf beeindruckende 67 Prozent vergrößern. Er siegte sogar im Departement Pando, das zu den Provinzen mit Autonomiebestrebungen zählt. Nur in drei von neun Provinzen hat Morales verloren. Aber selbst dort hat er viele Anhänger: in Beni 44 Prozent, in Santa Cruz 39 Prozent und in Tarija verpasste er die Mehrheit nur um etwa 500 Stimmen.

Dabei hatte die Opposition die Regierung über Monate politisch an die Wand gedrückt. Es gab sogar Stimmen, die von einem heraufziehenden Bürgerkrieg sprachen. In mehreren Departements hatten die Bürger in zwar nicht verfassungskonformen, aber beeindruckend erfolgreichen Referenden für Autonomie und Eigenstaatlichkeit votiert. Jedes Wochenende in Mai und Juni, wenn wieder eine der Provinzen im vermögenden Osten für mehr Autonomie gestimmt hatte, bröckelte die Macht der Zentralregierung im fernen La Paz ein Stückchen mehr. Im Departement Santa Cruz ließ sie Großgrundbesitzer gewähren, die sich mit Waffengewalt Regierungsvertretern in den Weg stellten, die Land umverteilen wollten. Und an der Grenze zu Peru wehrten sich Schmuggler so erfolgreich mit Steinen gegen Zollkontrollen, dass die bolivianischen Staatsdiener über die Grenze nach Peru fliehen mussten. Die Durchsetzungskraft von Morales und seiner Regierung schrumpfte, über das Gewaltmonopol verfügte sie schon lange nicht mehr.

Die Mehrheit lebt in Armut

Doch dann riss der Präsident das Ruder herum und verschaffte sich mit dem Referendum in der Mitte seiner Amtszeit eine eindrucksvolle neue Legitimation. Die Konflikte im Armenhaus Lateinamerikas aber bleiben: zwischen reicher Oligarchie und der großen Bevölkerungsmehrheit der armen Landlosen, zwischen der weißen Minderheit und der zu indigenen Völkern gehörenden Mehrheit, zwischen Tiefland und Hochland, zwischen Osten und Westen, zwischen reichen und armen Provinzen.

Seit Jahren ist Bolivien ein Land in Aufruhr. Wie andere lateinamerikanische Länder galt der Andenstaat mit seinen gut neun Millionen Einwohnern bis vor wenigen Jahren zwar formell als demokratisch. De facto war er aber ein feudalistisch geprägter Staat, in dem drei Dutzend Familien das Sagen hatten und die große Mehrheit von den Fleischtöpfen fernhielt. 60 Prozent der Bevölkerung leben nach offiziellen Angaben in Armut. „Wir wollen den Reichtum des Landes gerechter verteilen und für mehr Einkommen sorgen“, sagt Graciela Toro Inbáñez. Sie ist die Planungsministerin und damit so etwas wie die Kabinettschefin der Regierung Morales, die sich die Bekämpfung der Armut als oberstes Ziel auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dazu zählt auch die Umverteilung von Land im reichen Osten: von europäischstämmigen Farmern an Guaraní- und andere Indigena-Gemeinden, denen weiße Siedler nach dem letzten Aufstand der Guaraní gegen die Zentralgewalt Ende des 19. Jahrhunderts eben dieses Land abgenommen hatten. Noch heute werden dort Indigenas als Landlose in rechtsfreien Arbeitsverhältnissen ausgebeutet. Etliche Familien leben in Schuldknechtschaft und Sklaverei auf den Farmen reicher Hacenderos.

Der Weg zu einem Präsidenten aus der Gruppe der Indigenen in Bolivien hat sich über mehrere Jahre abgezeichnet. In den 1990er Jahren verließen immer mehr Indigenas die verarmten einstigen Minenstädte im Altiplano in Richtung der Hauptstadt La Paz; die von Indigenen bewohnte Großstadt El Alto direkt über der Hauptstadt wurde immer größer. Seitdem wuchs der Unmut gegen das Establishment. Er gipfelte in der Vertreibung von zwei Präsidenten, der beiden Vorgänger von Morales. Morales ist nun als Kandidat der MAS (Bewegung zum Sozialismus) der erste bolivianische Präsident, der nicht der europäischstämmigen weißen Herrschaftselite angehört und in den USA oder Europa ausgebildet wurde. Er kommt aus dem Volk der Aymara und hat sein bisheriges Leben als Bäcker, Cocabauer und zuletzt als Präsident der Vereinigung der Cocabauern verbracht. Mit seiner Wahl hat die alte Machtelite abgedankt. In den Ministerien, die zuvor ihr leitendes Personal aus den Söhnen und Töchtern der Oberschicht rekrutiert hatten, vollzog sich ebenfalls ein Wechsel zu mehr Indigenen.

Die MAS ist ein kurz vor der Wahl 2002 gegründetes Sammelbecken verschiedener linker und indigener Gruppen. Zu ihr zählen sozialdemokratisch geprägte gemäßigte Linke, Intellektuelle, Gewerkschafter und Sozialisten, viele indigene Basisgruppen sowie die „ponchos rochos“. So heißt in Anlehnung an die roten Ponchos der Aymara-Geistlichen der radikale Flügel der MAS, der sich an indigenen Welt- und Wertvorstellungen orientiert und indigene Rechtsnormen einführen will, die nicht alle mit westlichen Justizvorstellungen übereinstimmen.

Die Regierungspartei ist also keine homogene, in vielen Auseinandersetzungen gewachsene Partei. Den Mangel an Regierungspraxis räumen selbst Kabinettsmitglieder offen ein. „Die Gruppen, die heute an der Regierung sind, hatten bisher noch keine Gelegenheit, zu lernen, wie die Staatsgeschäfte geführt werden. Dieser Mangel an Erfahrung ist jetzt ein Nachteil“, sagt der bolivianische Arbeitsminister Walter del Galdillo. Auch diese Unerfahrenheit hat dazu geführt, dass die Macht von Morales ausgehöhlt wurde.  

Die Forderung der Opposition nach mehr Autonomie für die Departements lehnt der Präsident bis heute vehement ab. Er hat die Provinzen brüskiert, als er seinen Verfassungsentwurf mit der eigenen Parlamentsmehrheit durchsetzte und anders denkende Parlamentarier von der Abstimmung aussperren ließ. So hat er den widerspenstigen Provinzen den Weg zu ihrem erfolgreichen Protest geebnet. Neben einer größeren Eigenständigkeit verlangen sie einen höheren Anteil an den Steuereinnahmen aus den Öl- und Gasreserven des Landes, die in ihren Provinzen liegen. Der Präfekt in Santa Cruz nennt sich inzwischen Gouverneur und will eigene Polizeitruppen aufstellen.

Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich das wirtschaftliche Zentrum Boliviens aus den Anden ins Tiefland verlagert. Heute ist  Santa Cruz die größte Stadt des Landes. Diese ökonomische Bedeutung wollen die Autonomie-Befürworter auch in politische Macht ummünzen. Sie argumentieren ferner, dass es zwischen der Ebene der Zentralregierung und den inzwischen unabhängigen Kommunen eine weitere unabhängige und gewählte Ebene, nämlich die der Departements geben müsse. Zwar wurden die Präfekten inzwischen alle gewählt, unter der alten Verfassung sind sie jedoch ausführende Organe der Zentralregierung.

Erdöleinnahmen für Sozialprogramme

Ein weiterer Streitpunkt zwischen Departements und Zentralregierung ist die Verteilung der wachsenden Staatseinnahmen. Nur wenige Monate nach seinem Regierungsantritt hatt Morales begonnen, die an der Öl- und Gasförderung beteiligten ausländischen Firmen zu verstaatlichen. Mit den neuen Steuereinnahmen hat er den bolivianischen Haushalt saniert. Branko Marinkovic, der Vorsitzende des Bürgerkomitees von Santa Cruz, fordert nun, die gesamte Steuer auf die fossilen Brennstoffe den Departements zu überlassen, in denen diese gefördert werden. Die Regierung Morales hingegen bestreitet mit einem erheblichen Teil der Einnahmen Sozialprogramme, das von ihr eingeführte Schulgeld und die ebenfalls neue „Renta dignidad“ – die „würdige Rente“ für die Alten, die bisher keine Renten bekommen hatten.

Mit dem Referendum sind die politischen Karten neu gemischt, doch grundlegende Änderungen haben sich nicht ergeben. Zwar gewann Morales die Abstimmung über die Fortführung seiner Präsidentschaft. Aber seine Gegner konnten bei dem Referendum Teilsiege erringen, die meisten oppositionellen Präfekten sind im Amt bestätigt worden. Mit ihnen hat sich Morales nur wenige Tage nach der Abstimmung getroffen, um nach Auswegen aus der verfahrenen Situation zu suchen. Das Gespräch endete ohne Ergebnis – der Wille oder die Fähigkeit zum Kompromiss fehlten.

Beide Seiten beharren bisher auf ihren Positionen. Dabei wäre die Gelegenheit für Morales jetzt günstig, sich großzügig zu zeigen und die Opposition wenigstens in einigen Punkten mitzunehmen. Er könnte zum Beispiel die Forderung erfüllen, die vakanten Stellen im Verfassungsgericht wieder zu besetzen. Das hat Morales bisher stets verweigert und auf diese Weise verhindert, dass das Gericht als unabhängige Instanz in strittigen Fragen wie den Autonomie-Referenden vermitteln konnte. Zugeständnisse an die Autonomie-Begehren in den Departements erscheinen unerlässlich, zumal sich deren Bestrebungen nicht in allen Fällen gegen den Präsidenten persönlich richten.

„Wir sind keine Bewegung gegen Morales“, sagt der Rechtsanwalt Juan Carlos Urenda Diaz, der das Autonomiestatut von Santa Cruz mit formuliert hat. „Wir arbeiten schon seit Jahren an mehr Eigenständigkeit für unser Departement und hätten diese Forderung auch an jeden anderen Präsidenten gestellt.“ Zu Beginn, sagt Diaz, sei die Opposition noch nicht einmal Teil der Bewegung gewesen.

Das bestätigt auch José Antonio Quiroga. Der Verleger hat ein Amt in der Regierung Morales abgelehnt. „Eigentlich geht die Autonomie schon auf die 1950er Jahre zurück“, sagt Quiroga, der die liberale Zeitschrift „Plural“ herausgibt. „Seitdem hat es immer wieder Bestrebungen in den Departements nach mehr Autonomie gegeben.“

Kaum Alternativen zu Verhandlungen

Nicht alle, die für die Autonomie streiten, seien Teil der reichen  Elite. Die sei aber trotzdem maßgeblich für die abtrünnigen Departements. „Eindeutig wird die Autonomiebewegung von der Oligarchie, der Industrie, den Landbesitzern und den ausländischen Firmen angeführt“, meint Quiroga. Er glaubt nicht, dass Morales Brücken zur Opposition bauen will. „Er hält daran fest, nur einen Teil der Bevölkerung zu vertreten. Das unterstreicht er, indem er sich immer wieder als Chef der Cocabauern wählen lässt.“ Der Verleger erkennt zwei soziale Bewegungen, die derzeit in Bolivien aufeinandertreffen: den indigen-sozialen Block um Evo Morales und den Autonomie-Block in den Departements. „Beide sprechen sich gegenseitig ihre berechtigten Interessen ab“, sagt Quiroga.

Bisher war die Regierung Morales so klug, bei Widerstand gegen ihre Projekte auf das Militär zu verzichten und ein Blutvergießen zu vermeiden. Bleibt sie dabei, hat sie eine Chance, die Opposition ins Leere laufen zu lassen und vielleicht sogar an den Verhandlungstisch zurückzuholen. Sollte sie aber angesichts des guten Ergebnisses bei dem Referendum die eigene Klientel stärker bedienen und dies auch mit Staatsgewalt durchsetzen wollen, könnte der Konflikt wieder eskalieren.

Jörn Breiholz ist freier Journalist in Hamburg.

Michael Netzhammer ist freier Journalist in Hamburg.

„Autonomie ja, aber nicht so“

Im Dezember 2007 verabschiedete die Verfassungsgebende Versammlung Boliviens eine neue Verfassung für den Andenstaat. Die Oppositionsparteien haben den Beschluss nie akzeptiert, weil er ihrer Ansicht nach auf unrechtmäßige Weise zustande gekommen ist. Roberto Ivan Aguilar Gómez, der Vizepräsident der Versammlung und Vertreter der Regierungspartei MAS, weist die Vorwürfe zurück.

Laut Opposition war die Abstimmung der Verfassungsversammlung illegal. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine rein politische Position. Die Opposition hat kein Interesse an einer neuen Verfassung, weil sie fürchtet, dass das ihr Projekt für mehr Autonomie der Provinzen im östlichen Tiefland behindert. Deswegen hat sie die Abstimmung im vergangenen Dezember boykottiert.

Laut anderen Quellen, zum Beispiel der International Crisis Group, wurde die Opposition daran gehindert, an der Abstimmung teilzunehmen.

Die Opposition behauptet, sie sei nicht in das Gebäude in Oruro gelassen worden, wo am 8. Dezember 2007 die Abstimmung stattgefunden hat. Diese Lüge wird von den Fernsehbildern dieses Tages widerlegt. Da sieht man die Abgeordneten der Opposition vor Ort auf einem Treffen, das vor der Abstimmung stattgefunden hat. Die Präsidentin der Verfassungsversammlung und ich haben sie vor laufenden Kameras eingeladen, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Die Fernsehbilder dokumentieren ihre Unsicherheit, wie sie sich dazu verhalten sollen. Und sie zeigen, wie sich die oppositionellen Abgeordneten dann zurückgezogen haben.

Sind die Legitimität und die Legalität der neuen Verfassung Ihrer Ansicht nach über jeden Zweifel erhaben?

Ja, und zwar aus zwei Gründen: Erstens haben sich an der Abstimmung 164 der 255 Abgeordneten beteiligt, darunter die der Oppositionspartei Unidad Nacional und eine Gruppe der ebenfalls oppositionellen Partei Podemos. Zweitens, wurde vor der Abstimmung noch einmal der komplette Verfassungstext verlesen und dann über die einzelnen Artikel abgestimmt. Die Kritik, es sei nur über die Überschriften für einzelne Verfassungsartikel abgestimmt worden, ist also unbegründet. Bislang hat niemand rechtliche Schritte gegen die Abstimmung unternommen oder Änderungen der Verfassung eingeklagt.

Aber hat sich der Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition seit der Abstimmung nicht sogar noch verschärft?

Die Lage hat sich weiter polarisiert, weil der Media Luna, also die Provinzen im östlichen Tiefland, die neue Verfassung unbedingt verhindern wollen. Denn die würde ihre separatistischen Bestrebungen behindern, und sie begrenzt zudem den Großgrundbesitz. Das ist die zentrale Sorge der Anführer in Santa Cruz und den anderen oppositionellen Provinzen.

Landeskenner sagen, der Konflikt in Bolivien lasse sich nur lösen, wenn die Verfassung das Autonomiestreben des Media Luna berücksichtigt. Stimmen Sie dem zu?

Das Problem sind die weitreichenden Forderungen von Santa Cruz, etwa nach einer Hoheit der Provinzen über die Justiz oder die Kontrolle von Landbesitz. Diese Forderungen laufen auf die Zerstörung Boliviens hinaus. Es spricht nichts gegen eine Ergänzung der Verfassung, aber nicht auf der Grundlage dieser Positionen. Deshalb hat auch Präsident Morales gesagt: Autonomie ja, aber nicht so.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

welt-sichten 9-2008

 

erschienen in Ausgabe 9 / 2008: Sudan: Krieg an vielen Fronten
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!