Als José Hernández das Gefängnis von Mariona verlässt, trägt er noch immer die Uniform der Häftlinge: ein weißes T-Shirt und weiße kurze Hosen. Neun Monate hat er in der größten Haftanstalt der Hauptstadt San Salvador gesessen. Unter den Regeln des Ausnahmezustands hat man ihm bis zum Schluss nicht gesagt, weshalb man ihn damals überhaupt ins Gefängnis brachte. Nun hat ein Richter seine Freilassung angeordnet.
Vor dem Gefängnistor wartet niemand auf ihn. Aber da sind ein paar Mitglieder der „Bewegung der Opfer des Regimes“ („Movimiento de víctimas del régimen“ = MOVIR). Sie geben ihm andere Kleidung und leihen ihm ein Telefon, damit er zu Hause im 120 Kilometer entfernten Usulután anrufen kann. Und sie geben ihm Unterschlupf, bis er am nächsten Tag von seiner Familie abgeholt wird. MOVIR, das ist eine kleine, informelle Bürgergruppe, die sich unter dem seit Ende März 2022 immer wieder verlängerten Ausnahmezustands der Präsidentschaft von Nayib Bukele gebildet hat.
Die Betreuung von freigelassenen Häftlingen ist nur eine der Aufgaben, um die sich die Gruppe kümmert. Ihr Sprecher ist Samuel Ramírez. Als freiberuflicher Informatik-Ingenieur hat der 56-Jährige seither nur noch wenige Aufträge angenommen – sein Arbeitsalltag hat sich durch sein Engagement deutlich verändert.
60.000 Menschen ohne Haftbefehl ins Gefängnis gesteckt
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Offizieller Grund für den Ausnahmezustand war damals, dass in dem sechs Millionen Einwohner zählenden Land innerhalb kürzester Zeit 87 Menschen von den „Maras“ genannten kriminellen Banden ermordet worden waren. Bukele hatte kurz zuvor ein Stillhalteabkommen mit diesen Mafias aufgekündigt. Die Folge war, dass über 60.000 Menschen – fast ausschließlich junge Männer aus Armenvierteln – ohne Haftbefehl ins Gefängnis geworfen wurden. Ramírez und seine Gruppe kümmern sich seither fast nur noch um die Gefangenen und ihre Familien.
„Unter den Verhafteten sind auch junge Leute, die Opfer eben dieser Banden waren“, erzählt er. „Junge Männer, deren Geschwister ermordet wurden und die man zwingen wollte, sich diesen Mafias anzuschließen. Nun sind sie im Gefängnis, nur weil sie in einer Gegend wohnen, die als Risikogebiet gilt. Es ist schrecklich.“ Nach einem Bericht von Human Rights Watch wird in den Gefängnissen systematisch gefoltert, fast hundert Gefangene seien bereits zu Tode gekommen.
Viel können die wenigen Aktiven nicht tun, zumal sie der Regierung ein Dorn im Auge sind. MOVIR bittet um Lebensmittelspenden und reicht sie an Familien weiter, die sich um die Kinder von Verhafteten kümmern. „Es gibt Kinder, die bei den Nachbarn untergekommen sind, weil Vater und Mutter im Gefängnis sitzen.“ Ramírez kennt eine junge alleinerziehende Frau, die neben den eigenen vier auch noch die drei Kinder ihres verhafteten Bruders versorgt. „Sie suchen im Müll nach Dosen, die sie an ein Recyclingwerk verkaufen können.“ Das sei ihr einziges Einkommen. Über hundert solcher Familien hat MOVIR geholfen. Angesichts der Zahl der Verhafteten scheint das nicht viel. Aber „MOVIR ist die einzige Organisation, die sich um diese Opfer des Regimes kümmert“, sagt Ramírez.
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