Ohne leistungsfähige Wirtschaft lässt sich die Armut nicht reduzieren
In einigen Ländern zeigt der Kampf gegen Armut beachtliche Erfolge, doch insgesamt werden die Millenniumsziele (MDGs) bis 2015 wohl nicht erreicht. Diese gemischte Bilanz zogen reiche und arme Länder sowie zivilgesellschaftliche Gruppen auf einer UN-Konferenz zu den MDGs Ende September in New York (siehe Kasten). Uschi Eid, Mitglied der Bundestagsfraktion der Grünen und frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesentwicklungsministerium (BMZ), warnt davor, die Ziele zu überhöhen, und erläutert, warum sie den MDG-Ansatz für unzureichend hält.
Die Gebergemeinschaft hat vor der UN-Generalversammlung Ende September einmal mehr erklärt, sie wolle die Hilfe für Afrika verdoppeln. Was halten Sie davon?
Wenn man Versprechungen macht, dann muss man sie auch halten. Aber den Regierungen, die beim Reformprogramm der Neuen Partnerschaft für Afrika (Nepad) mitmachen, ging es ja weniger ums Geld als darum, Afrika mit einer neuen Entwicklungsstrategie aus der Ecke des Hilfeempfänger-Kontinents herauszuführen und zu einem vollwertigen Partner in der Weltwirtschaft zu machen. Entwicklungszusammenarbeit steht hier erst an zweiter Stelle.
Das heißt, der Satz „Viel hilft viel“ gilt Ihrer Ansicht nach nicht?
So ist es. Viel hilft nicht unbedingt viel. Die Frage ist: Wo setzt man an, wie ist die Qualität, sind unsere Instrumente der Kooperation zielgenau genug? Und vor allem: Unterstützen wir unsere Partner auch wirklich dort, wo sie es selber für notwendig erachten? Als G8 haben wir beschlossen, mit den Staaten, die der Nepad-Strategie folgen wollen, eine bevorzugte Partnerschaft einzugehen und sie bei den von ihnen definierten Reformschritten zu unterstützen. Und genau das sollten wir auch tun. Das heißt nicht, dass man Partnerschaften mit anderen Ländern, die noch nicht so weit sind, beendet.
Die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (MDGs) sind so etwas wie die Bibel der Entwicklungspolitik. Sie glauben dennoch nicht recht daran – warum eigentlich nicht?
Da widerspreche ich vehement: Die MDGs sind keine Bibel, das ist eine völlige Überhöhung. Die MDGs sind der kleinste gemeinsame Nenner der internationalen Gemeinschaft und allenfalls ein Minimalkatalog für Entwicklung. Keines der Ziele beschäftigt sich mit dem produktiven Sektor, mit dem Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft oder eines funktionsfähigen Steuersystems. Es gibt außerdem keine Ziele für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder gute Regierungsführung. Auch sind sie völlig unterschiedlich in Umfang und Komplexität: Einige Ziele sind klar quantifiziert, andere nur allgemein beschrieben.
Heißt das im Umkehrschluss, es wäre gar nicht so schlimm, wenn die MDGs nicht erreicht würden?
Nein. Ich sage ja nicht, dass diese Ziele unsinnig sind. Ich wehre mich nur gegen eine Überhöhung. Natürlich muss alles dafür getan werden, dass Mütter bei der Geburt ihrer Kinder nicht sterben; dass es das in der heutigen Welt noch gibt, ist unakzeptabel. Auch müssen selbstverständlich alle Kinder zur Schule gehen können. Aber zu meinen, man könne diese Ziele erreichen, ohne vorher die Voraussetzungen dafür zu schaffen – zum Beispiel einen funktionierenden Staat aufzubauen und für Frieden zu sorgen –, greift zu kurz.
Aber überfordern Sie die Entwicklungspolitik damit nicht? Wäre es nicht besser, sich auf die klassischen Kernaufgaben zu konzentrieren: Bildung, Gesundheit, ländliche Entwicklung?
Nichts gegen diese Aufgaben – im Gegenteil. An erster Stelle müsste allerdings MDG Nummer 7 stehen: der Zugang zu sauberem Wasser. Das ist der Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Bei der Bildung greift die Fokussierung auf die Grundbildung zu kurz. Was sollen denn die Kinder tun, wenn sie lesen und schreiben können? Sie brauchen anschließend eine berufliche Ausbildung und Arbeitsplätze. Nicht zuletzt brauchen wir eine Wissenselite und ordentliche Arbeitsbedingungen. Dafür wird zu wenig getan. Und ich sage es noch einmal: Die Träger von Entwicklung müssen die Entwicklungsländer selber sein. Man muss sie dabei unterstützen und sie ermutigen, die notwendigen Reformschritte zu gehen. Und zwar in Respekt vor ihrer Selbstbestimmung und ihrer Eigenverantwortung.
Das Gespräch führte Johannes Schradi.
Uschi Eid ist Mitglied der Bundestagsfraktion der Grünen
welt-sichten 10-2008