Amritsar liegt keine hundert Kilometer entfernt von Pakistans Hauptstadt Lahore. Und bis zur Grenze zur umstrittenen Region Kaschmir sind es nicht einmal 40 Kilometer. Mit gut einer Millionen Einwohnern ist die Stadt im nordwestlichen Bundesstaat Punjab für indische Verhältnisse nicht sehr groß. Für die 27 Millionen Sikhs weltweit ist Amritsar allerdings das geografische Zentrum ihres Glaubens. Hier steht der sogenannte Goldene Tempel, der als die wichtigste Gebets- und Pilgerstätte des Sikhismus gilt. Hier wird das heilige Buch der Sikhs, das Adi Granth, aufbewahrt. Das Heiligtum liegt in der Mitte eines künstlichen Sees und wird täglich von zehntausenden Pilgerinnen und Pilgern besucht. An hohen Feiertagen können es auch über hunderttausend sein.
Angesichts des jüngst wieder aufgeflammten Konflikts zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir hat der indische Kongressabgeordnete Sukhjinder Singh Randhawa Anfang Juni in einem offenen Brief an Narendra Modi gefordert, Amritsar zur kriegsfreien Zone zu erklären und gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft dafür zu sorgen, dass die heilige Stadt der Sikhs nicht in einen politischen Konflikt gezogen wird und ihre Sicherheit und Heiligkeit „unter allen Umständen“ gewährleistet wird. Seine Forderung werde mitgetragen von der Sikh-Gemeinde und der Zivilgesellschaft, schreibt Randhawa, der im Bundesstaat Punjab bekannt ist und bereits verschiedene politische Funktionen im dortigen Parlament und in der lokalen Regierung innehatte.
Amritsar ist für Sikhs wie der Vatikan für Katholiken
„Für den Sikh-Glauben hat Amritsar dieselbe spirituelle Bedeutung wie Mekka für Muslime oder der Vatikan für Christen. Ich schlage deswegen vor, die globale spirituelle Bedeutung Amritsars offiziell anzuerkennen und entsprechende internationale Sicherheitsmechanismen – ähnlich denen zum Schutz des Vatikans – zu erwägen und einzuführen“, schreibt Randhawa, der selbst Sikh ist. Die Lehren des Sikhismus, die auf Frieden, Demut und universeller Brüderlichkeit basierten, seien ein moralisches Gegenmittel gegen die weltweit eskalierende Welle des Militarismus. Die jüngsten geopolitischen Spannungen hätten berechtigte Bedenken hinsichtlich der potenziellen Verwundbarkeit Amritsars im Falle eines militärischen Konflikts neu aufleben lassen, schreibt er.
Erst Ende April war der seit der Teilung der britischen Kronkolonie 1947 in Indien und Pakistan bestehende Konflikt um die Region Kaschmir nach einem Terroranschlag auf indische Touristen mit 25 Toten wieder eskaliert. Bei den anschließenden Gefechten zwischen den beiden Ländern kamen in der Region weitere 30 Zivilisten ums Leben. Auch Amritsar soll dabei Ziel von Drohnen und Raketen aus Pakistan gewesen sein. Zwei abgefangene Geschosse sollen nach Aussage eines hochrangigen indischen Militärs auf den Goldenen Tempel in Amritsar gezielt worden sein. Auch andere religiöse Stätten der Sikhs waren unter Beschuss gekommen. In Poonch, einer Stadt im von Indien beanspruchten Teil Kaschmirs, waren bei einem Angriff auf ein Gurdwara drei Menschen getötet worden.
Mehrmals Schauplatz von Gewalt
Bisher hat die indische Regierung nicht auf die Forderung Randhawas reagiert. Amritsar steht auch für ein blutiges Kapitel in dem seit Anfang des 20. Jahrhunderts andauernden Kampf der Sikhs für einen eigenen Staat im heutigen Punjab und umliegenden Gebieten. Bei der Operation Blue Star hatten indische Truppen 1984 den Goldenen Tempel gestürmt, um eine Gruppe von Sikh-Separatisten, die sich dort verschanzt hatten, auszuheben. Mehrere hundert Soldaten und Pilger kamen damals bei dem Gefecht ums Leben. Die damalige Premierministerin Indira Ghandi wurde ihrerseits nur wenige Monate später von zwei ihrer Leibwächter, beide Sikhs, in einem Racheakt ermordet.
In seinem Brief hatte Randhawa entsprechend klargestellt, dass es sich bei seinem Appell „nicht um die Forderung nach politischer Souveränität wie im Vatikan handelt, sondern vielmehr um ein Plädoyer für internationale spirituelle Anerkennung und dauerhaften Sicherheitsschutz. In einer Zeit zunehmender globaler Spannungen und Militarisierung ist es unerlässlich, Amritsar vor den Gefahren von Krieg und Gewalt zu schützen – jetzt und für immer.“
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