„Die Menschen müssen merken: Demokratie lohnt sich“

Seit Juli 2011 ist der Südsudan unabhängig. Manche Fachleute bezweifeln, dass es in absehbarer Zeit gelingt, das Land zu stabilisieren und wirksame politische Institutionen zu schaffen. Josef Sayer, Hauptgeschäftsführer von Misereor, sieht das anders: Die politische Elite des Südsudan sei gewillt, Verantwortung zu übernehmen und einen funktionierenden Staat aufzubauen.

Sie haben im Südsudan mit Kirchenführern, Parlamentariern und Politikern gesprochen. Sehen Sie das Land auf einem guten Weg?

Was ich gehört und gesehen habe, gibt mir Zuversicht. So hat mir zum Beispiel der Erziehungsminister in Juba gesagt: Wir haben schon in den vergangenen fünf Jahren uns zu organisieren begonnen und unter großen Schwierigkeiten den Aufbau vorangetrieben – wir fangen jetzt nicht bei Null an. Ich habe im Landesparlament von East Equatoria eine beeindruckende Aufbruchstimmung miterlebt. Die Landesregierung und das Parlament haben zwei Tage ihr Arbeits- und Regierungsprogramm intensiv beraten und miteinander festgelegt. Ich war eingeladen, vor dem Parlament zu sprechen. Man muss jetzt vor allem das Schul- und Gesundheitswesen ausbauen. Die Menschen müssen merken: Demokratie lohnt sich.

Kritiker bemängeln, die internationale Hilfe baue im Sozialwesen Parallelstrukturen auf und erlaube der südsudanesischen Regierung, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Diese Gefahr sehen Sie nicht?

Nein, ganz im Gegenteil. Die gewählten Amtsträger wollen Verantwortung übernehmen. East Equatoria hat beschlossen, dass die Gehälter der Lehrkräfte an Privatschulen – die sind überwiegend in kirchlicher Trägerschaft – vom Staat übernommen werden. Das ist sehr gut und ich habe angeregt, für einen ähnlichen Beschluss im nationalen Parlament zu werben. Ähnlich engagieren sich ja auch in Deutschland Kirchen und andere freie Träger bei Schulen und Kindergärten und der Staat unterstützt das. Misereor ist bereit, Anschubfinanzierung für das Schul- und Gesundheitswesen zu leisten, aber daraus darf keine dauerhafte Abhängigkeit werden. Der neue Staat ist hier in der Pflicht.

Will die südsudanesische Regierung kirchliche Einrichtungen, die bisher einen großen Teil des Schul- und Gesundheitswesens tragen, in nationale Sozialdienste einbinden?

Schon bei meinem ersten Besuch im Südsudan 1999 habe ich ein sehr großes Vertrauen zwischen den damaligen Aufständischen und der Kirche festgestellt. Auch heute arbeitet die Regierung mit der Kirche vertrauensvoll zusammen. Das heißt aber nicht, dass der Staat nichts tut.

Besteht die Gefahr, dass die Kirchen zu nah an den Staat rücken, um ihre Rolle als kritische Wächter weiter wahrzunehmen?

Nein. Der Erzbischof von Juba, Paulino Lokudu Loro, ist ein politischer Mensch und sehr kritisch. Auch in der Bischofskonferenz sieht man sehr wohl, dass es nicht zu einer Verschmelzung von Kirche und Staat kommen darf – dass die Kirche Verantwortung für den Aufbau des Gemeinwesens trägt, aber auch für die kritische Begleitung. Bischöfe klagen zum Beispiel Fälle von Korruption an.

Kurz vor Ihrer Reise gab es in der Provinz Jonglei im Südsudan Kämpfe mit Hunderten Toten. Gefährden solche Konflikte den Zusammenhalt der jungen Nation?

Das glaube ich nicht. Bei meinen Besuchen in Ostafrika habe ich gelernt, Konflikte anders zu bewerten. Da es bei diesen Kämpfen nicht um die Macht im Staat geht, sondern es sich um Konflikte um Vieh zwischen zwei Stämmen handelt, droht letztlich dem Staat keine Gefahr. Ich habe das neu einschätzen gelernt, als ich im nördlichen Kenia bei einem Bischof einer abgelegenen Diözese war. Er sagte mir, Raubzüge um den Besitz von Kühen, von denen wir hier gar nichts erfahren, seien nach der dortigen Tradition gang und gäbe. Manchmal ziehen drei- bis vierhundert Bewaffnete los, um einem anderen Stamm Vieh wegzunehmen, und diese schlagen dann zurück. Dabei sterben Menschen. So etwas gibt es auch im Südsudan. Freilich werden solche Raubzüge heute nicht mehr mit Speeren unternommen, weil die Stämme in Kenia und im Sudan Tausende Gewehre besitzen. Das Problem besteht im Kleinwaffenhandel. Man kommt ganz billig an Waffen heran, die ursprünglich aus Europa oder Amerika stammen.

Zeigen die Kämpfe nicht auch, dass staatliche Institutionen wie eine Justiz fehlen, die den Frieden wahren können?

Natürlich muss die Zentralregierung dahin kommen, dass sie solche Kämpfe unterbinden kann. Bisher kann sie das nicht. Aber das gilt genauso für das nördliche Kenia. Und auch in Guatemala oder Kolumbien kann der Staat nicht überall die Gewalt kontrollieren, die von bewaffneten Banden ausgeübt wird.

Während des Krieges haben Khartum und südsudanesische Fraktionen lokale Konflikte ausgenutzt und geschürt. damals haben Kirchen versucht, Frieden zu stiften. Tun sie das jetzt wieder?

Ja. Wenn wir Schulbildung fördern, setzen wir auch beim Lehrinhalt an: Friedenserziehung und gewaltfreier Umgang mit Konflikten ist in den katholischen Schulen zum Lehrfach geworden.

Das hilft allenfalls langfristig, oder?

Ja. Nach einer so langen Kriegszeit sind kurzfristige Lösungen kaum möglich. Der Erziehungsminister hat mir gesagt, er ist den Kirchen dankbar für diese Arbeit, denn es gehe darum, von der Kriegskultur zu einer Friedenskultur zu kommen – da müsse die Schule ansetzen. Im Übrigen habe ich den Staatspräsidenten Salva Kiir im Januar als klugen und zurückhaltenden Menschen erlebt, der weiß, dass alles darauf ankommt, die verschiedenen Stämme zusammenzubringen. Die Regierungsbildung hat auch deshalb relativ lange gedauert, weil man die Zahl der Minister von etwa 40 auf 20 verringern wollte, aber trotzdem sicherstellen musste, dass die verschiedenen Interessen vertreten sind.

Welche Art Hilfe hat der Südsudan jetzt besonders nötig?

Der Südsudan ist darauf angewiesen, dass Nachbarländer wie Kenia, Äthiopien und Uganda und die internationale Staatengemeinschaft insgesamt ihn stützen. Hier sind auch Deutschland und die EU gefragt. Internationaler Druck sollte helfen, offene Streitfragen mit dem Sudan zu lösen, etwa die Grenzziehung oder wie die Erdöleinnahmen aufgeteilt werden sollen. Ungeklärt sind auch der Status der Südsudanesen, die in Khartum leben, und ob die Auslandsschulden beim Nordsudan bleiben oder auf beide Staaten aufgeteilt werden. Mir wurde nach meiner Reise gesagt, der Südsudan sei als Staat nicht lebensfähig und hätte mit dem Norden zusammenbleiben sollen. Aber würden Sie bei einem Staat bleiben wollen, der Dörfer bombardiert und einen Krieg geführt hat, der zwei Millionen Tote und vier Millionen Vertriebene verursacht hat? Gerade wir Kirchen müssen dieses Leiden und den Freiheitswillen der Südsudanesen ernst nehmen. 

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2011: Globalisierung: Auf dem Weg zur Einheitskultur?
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