Vergiftetes Klima

Gut ein Jahr nach der blutigen Niederschlagung der Proteste gegen die Regierung von Premierminister Abhisit Vejjajiva wird Anfang Juli in Thailand ein neues Parlament gewählt. Einen Weg aus der politischen Krise des Landes wird die Wahl aber kaum weisen - zu tief ist die Kluft in der Gesellschaft und zwischen den politischen Lagern.

Diesen Tag kann und will Phayao Akkhahad nicht vergessen. Am 19. Mai 2010 war die Armee in ein bekanntes Bangkoker Geschäftsviertel eingerückt, um die Proteste der oppositionellen Rothemden gegen die Regierung von Premier Abhisit Vejjajiva endgültig zu zerschlagen. Phayaos Tochter Kamolkate war in der Nähe des „roten" Camps als Freiwillige im Einsatz. Im Tempel Pathum Wanaram, in den sich viele Protestierende, allen voran Frauen, Ältere und Kinder, vor dem Militär geflüchtet hatten, kümmerte sich die Krankenschwester um Verwundete und Verängstigte. Die 25-Jährige wurde erschossen, als sie einem Schwerverletzten half. Phayao Akkhahad kommen die Tränen, wenn sie daran denkt, wie die Behörden den Tod ihrer Tochter zu rechtfertigen versuchen: „Man hat sie als Terroristin angesehen."

Autorin

Nicola Glass

lebt als Journalistin nahe Hamburg. Sie hat von 2002 bis 2015 als freie Südostasien-Korrespondentin in Bangkok gearbeitet und mehrfach in Malaysia recherchiert. 2018 erschien ihr Buch „Thailand. Ein Länderporträt“.

Der blutigen Niederschlagung der Proteste waren wochenlange Demonstrationen vorausgegangen, die friedlich begannen und immer gewalttätiger wurden. Rund ein Jahr danach hat Premier Abhisit nun das Parlament aufgelöst und für Anfang Juli Neuwahlen angekündigt. Doch sie finden in einer politisch vergifteten Atmosphäre statt. „Auf beiden Seiten sind die Gefühle über die Geschehnisse vergangenes Jahr immer noch sehr präsent", sagt der Asiendirektor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), Brad Adams.

Ein Rückblick: Während ihrer Massendemonstrationen zwischen März und Mai 2010 hatten die Rot-hemden, auch bekannt als „Vereinigte Front für Demokratie gegen Diktatur" (UDD), den Rücktritt von Abhisit, die Auflösung des Parlaments sowie vorgezogene Neuwahlen gefordert. Am 10. April kam es zu einer ersten heftigen Konfrontation zwischen den UDD-Anhängern und der thailändischen Armee. Soldaten sollten die UDD-Anhänger aus dem historischen Viertel Bangkoks vertreiben. Dabei mischten auch Akteure mit, denen es nicht um die politischen Anliegen der Rothemden ging: Ein UDD-Anhänger berichtete später, dass auf Seiten der Roten Armeeangehörige gegen die eigenen Kameraden gekämpft hätten. Es handelte sich jedenfalls um militärisch geschulte und gut bewaffnete Männer, entweder aus Kreisen der Armee selbst oder deren Dunstkreis.

Jene „Männer in Schwarz" spielten eine Schlüsselrolle im anhaltenden Konflikt. Thailands Regierung sprach von „Terroristen", die sich unter die Rothemden gemischt hätten und mit denen man im Namen der nationalen Sicherheit aufräumen müsse. In den folgenden Wochen glichen Teile der Hauptstadt einer Kriegszone: Die Rothemden verbarrikadierten sich in ihrem neuen Protestcamp an der Kreuzung „Ratchaprasong" im Herzen Bangkoks. Bei Granatanschlägen auf eine Gruppe von Gegendemonstranten am Abend des 22. April starb eine Frau. Dann wurde Mitte Mai ein radikaler, vom Militär suspendierter Generalmajor, der sich offiziell auf die Seite der UDD geschlagen hatte, von einem Scharfschützen der Armee niedergeschossen: Khattiya Sawasdipol starb wenige Tage später.

Offiziell kamen im April und Mai 2010 mindestens 91 Menschen ums Leben, fast 2000 wurden verletzt - darunter Demonstranten und andere Zivilisten, Soldaten und Journalisten. Knapp zwei Monate nach dem Ende des Aufstandes kehrten die Roten auf die Straßen Bangkoks zurück: „Hier sind Menschen gestorben", skandieren sie seitdem bei all ihren Kundgebungen. Auch Phayao Akkhahad, die Gerechtigkeit für den Tod ihrer Tochter fordert, ist stets dabei. Ihre bittere Vermutung: Das Militär habe Kamolkate und andere Helferinnen und Helfer erschossen, um Zeugen auszuschalten.

Thailands Regierung habe Menschenrechte und internationales Recht verletzt, kritisiert Brad Adams von Human Rights Watch. Seine Organisation hat in ihrem aktuellen Bericht „Abstieg ins Chaos" versucht, die blutigen Geschehnisse aufzuarbeiten. Demnach besteht kein Zweifel daran, dass die Armee Scharfschützen nicht nur gegen die Demonstranten eingesetzt hat. Andererseits spart HRW auch nicht mit Kritik an den Rothemden: Diese behaupteten stets von sich, sie seien eine friedliche Bewegung, und sähen sich nur als Opfer. Die UDD erklärte zudem, besagte „Männer in Schwarz" existierten nicht oder seien von der Regierung in die Bewegung eingeschleust worden. Äußerungen wie diese bezeichnet Adams als „Propaganda".

Die schlimmste Eskalation der Gewalt in Thailand seit achtzehn Jahren ist Ausdruck einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft. Die schon seit langem bestehende Kluft zwischen den konservativ Denkenden in der Mittel- und Oberschicht und der ärmeren Bevölkerungsmehrheit hat sich seit dem Putsch von 2006 verschärft. Damals vertrieben die Militärs den umstrittenen, vor allem bei den Armen populären Premier Thaksin Shinawatra aus dem Amt. Die Folgen sind bis heute spürbar: Ohne den Putsch gegen Thaksin gäbe es die „Rothemden" nicht, die sich vehement gegen einen neuen Staatsstreich aussprechen und die Umstände anprangern, die es einem Regierungschef erlaubt haben, ohne Wählervotum an die Macht zu gelangen. Die Vorwürfe richten sich dabei gegen Premier Abhisit. Dem Chef der „Demokratischen Partei" halten die Rothemden vor, dieser sei Ende 2008 nicht durch Wahlen an die Macht gekommen, sondern durch politische Ränkespiele und mit Hilfe des Militärs.

Dabei ist die UDD keineswegs eine einheitliche Bewegung. Die Reisbauern aus den Nord- und Nordostprovinzen träumen genauso wie viele Tagelöhner in den Städten davon, dass Thaksin Shinawatra zurückkommt. Anderen „Rothemden" hingegen ist Thaksin völlig egal. Ein Börsenmakler, der nur seinen Spitznamen „Chai Chai" angibt, beteiligt sich an den Protesten, weil er für den Erhalt des Prinzips „Eine Stimme für jeden Wähler" kämpft. Thaksin selbst, obwohl von der Mehrheit des Volkes gewählt, war alles andere als der von seinen Anhängern gepriesene „Held der Demokratie". Er war korrupt und seine Regierung war für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich.

„Momentan leben wir in einem Militärstaat, nicht in einer echten Demokratie", moniert Weng Tojirakarn. Der Arzt hatte schon in den 1970er Jahren Studentenproteste gegen Thailands Militär angeführt. Nach der Niederschlagung der Proteste im Frühjahr 2010 hatten sich einige der roten Anführer abgesetzt. Andere, unter ihnen Weng, hatten sich gestellt und waren verhaftet worden. Ihnen wird Terrorismus vorgeworfen. Erst kürzlich wurden Weng und einige Mitstreiter auf Kaution aus dem Gefängnis entlassen. „Die Situation in Thailand wird nicht besser, noch immer droht die Gefahr eines Militärputsches", sagt Weng, der damit rechnen muss, jederzeit wieder inhaftiert zu werden.

Den Rothemden gegenüber steht eine Elite aus konservativen Bürokraten, Militärs sowie weiteren Angehörigen der alteingesessenen Mittel- und Oberschicht. Sie hält die Armen und weniger Gebildeten für zu dumm, um wählen zu dürfen. Als williges Werkzeug der alteingesessenen Kreise erwies sich die sogenannte „Volksallianz für Demokratie" (PAD). Die in gelb gekleideten PAD-Anhänger agierten 2006 nicht nur als Wegbereiter für den Putsch gegen Thaksin, sondern waren auch maßgeblich verantwortlich für den Sturz der neuen Thaksin-nahen Regierung 2008, worauf schließlich Abhisit ins Amt gelangte.

Bis heute ist Thailands konservatives Establishment nicht gewillt, politische Macht, Pfründe und Wohlstand mit den Armen und weniger Privilegierten zu teilen. Letztere zeigen sich deswegen zunehmend wütend und frustriert. Hinzu kommt: Schon zwei Mal waren Parteien, die Thaksin beziehungsweise den Rothemden nahe stehen, wegen angeblichen Wahlbetrugs gerichtlich aufgelöst worden. Daraufhin gründeten die Getreuen des Ex-Premiers eine neue Partei: „Puea Thai" (Für Thais). Hinter den Entscheiden der Justiz witterten die Roten politische Motive und kritisierten die Urteile jeweils als „juristischen Coup".

Die Straßenproteste werden hauptsächlich von der außerparlamentarischen (UDD) geführt, die ihre Kundgebungen als Klassenkampf ansieht - zwischen den „prai", den Geschundenen, den Machtlosen auf der einen und den „amart", den Konservativen, den Angehörigen von Aristokratie und Bürokratie auf der anderen Seite. Dass sich Rothemden als „prai" bezeichnen, bedeutet den bewussten Bruch mit einem kulturellen Tabu: Letzteres gilt als Schmähwort und wird öffentlich kaum verwendet. Die Roten aber tragen diese Bezeichnung nun mit Stolz.

„Die Landbevölkerung und die Arbeiter in den Städten haben es satt, Bürger zweiter Klasse zu sein", urteilt der Politikwissenschaftler Federico Ferrara von der City-University Hongkong. „Sie haben es satt, von Leuten, die durch Ausbeutung und Bestechung reich geworden sind, gesagt zu bekommen, sie seien zu dumm und minderwertig, um jene Rechte zu genießen, die Bürgern in demokratischen Ländern zuerkannt werden." Wobei die Armen in der UDD mit ihren Forderungen nicht allein sind. Längst haben sie Zulauf aus der moderat denkenden Mittel- und Oberschicht bekommen.

Eine Schlüsselrolle spielt das ebenfalls tief gespaltene Militär. Etliche Soldaten sympathisieren mit den Rothemden. „Wassermelonen-Soldaten" nennt man sie, weil ihre Uniformen grün, ihre Herzen aber rot sind. Eine Kluft im Umgang mit der UDD offenbarte sich auch innerhalb der Top-Riege: Der Ende September 2010 aus dem Amt geschiedene Armeechef Anupong Paochinda, der einst dem Rat für Nationale Sicherheit angehörte, dessen Generäle gegen Thaksin putschten, galt beileibe nicht als „Wassermelonen-Soldat". Aber den Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten hat er stets abgelehnt. Anders sein Nachfolger: General Prayuth Chan-ocha, verantwortlich für die versuchte Niederschlagung der „roten" Demonstrationen am 10. April 2010, ist als Hardliner und erklärter Gegner der UDD bekannt.

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass kürzlich in Dutzenden lokaler „roter" Radiostationen Razzien stattfanden und etliche Sender vorübergehend geschlossen wurden. Zudem häufen sich Anklagen wegen angeblicher Majestätsbeleidigung gegen Akademiker, Aktivisten, Politiker oder Journalisten. Die Beschuldigten stellen nach Ansicht der Armeespitze und anderer Vertreter konservativer Kreise die Monarchie in Frage und bedrohen damit die nationale Sicherheit. Kritiker hingegen erklären, dass auf diese Weise politisch Andersdenkende mundtot gemacht werden sollen: Der konservativen Seite gehe es um Machterhalt um jeden Preis.

Vor allem Thailands Militär pflegt seine Staatsstreiche mit dem Schutz des Königshauses und der Wiederherstellung nationaler Einheit zu legitimieren. In den vergangenen Wochen marschierten mehrere Bataillone vor ihren Kasernen auf - ein Muskelspiel der Macht: „Die Armee ist dazu da, das Land gegen Feinde von außen zu verteidigen", sagt Weng Tojirakarn, „aber sie darf nicht gegen zivile Protestbewegungen eingesetzt werden."

Dass bis heute keine Versöhnung stattgefunden hat, verwundert kaum: Der im April 2010 verhängte Ausnahmezustand wurde erst acht Monate später aufgehoben. Während dieser Zeit wurden die Medien immer stärker zensiert, zahlreiche Oppositionelle und mutmaßliche Sympathisanten der „Rothemden" wurden verhaftet. Die Regierung rief im Namen nationaler Aussöhnung verschiedene Kommissionen ins Leben, darunter die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Sie soll die Umstände des Konflikts untersuchen und daraus Empfehlungen ableiten, wie ein solches Ausmaß an Brutalität in Zukunft vermieden werden kann. Die Kommission wurde aber kritisiert, noch bevor sie ihre Arbeit aufgenommen hatte. Denn sie hat kein Mandat, Personen zum Gespräch vorzuladen oder gar diejenigen zu belangen, die mutmaßlich für die Gewalt verantwortlich waren.

Wohl wissend, dass von beiden Seiten Gewalt ausgegangen ist, erklärt Kommissionsmitglied Somchai Homlaor: „Dem Staat obliegt die größte Verantwortung, weil er die Aufgabe hat, die Menschen, ihr Leben und ihre Rechte zu schützen oder die mutmaßlichen Täter zur Rechenschaft zu ziehen." Aber genau darin habe der Staat versagt, sagt der angesehene Menschenrechtsanwalt. Man sei zudem „nicht glücklich" darüber, dass das Militär Immunität genieße - das schade dem Land. Ob die Schuldigen, vor allem auf Seiten der Armee, jemals vor Gericht gestellt werden, bleibt fraglich.

Ende 2010 sickerten Dokumente der thailändischen Sonderermittlungseinheit DSI durch, laut denen das Militär stärker an der Ermordung von Zivilisten beteiligt war, als es Armee und Regierung zugeben wollen. Doch die Dokumente wurden als Teile eines noch nicht vollständigen Berichts heruntergespielt. So lange die Menschen in Thailand zurückdenken könnten, sei die Armee, die Staatsstreiche verübt und systematisch Menschenrechte verletzt hätte, dafür niemals rechtlich belangt worden, kritisiert auch HRW-Asiendirektor Adams. Das erklärt aus seiner Sicht teilweise das Verhalten jener Soldaten, die abgestellt worden waren, um mit den Protestierenden aufzuräumen.

So werden wohl auch die Wahlen Anfang Juli keinen Weg aus der politischen Krise weisen. „Beide Lager werden die Geschehnisse im vergangenen Jahr für ihre Kampagnen nutzen", meint Adams. Eine wichtige Frage ist auch, ob der Urnengang frei und fair verlaufen und der Verlierer den Wahlsieg der anderen Seite anerkennen wird. Oder besser gesagt: Ob Thailands Militärführung eine „rote" Regierung dulden wird.

 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2011: Wir konsumieren uns zu Tode
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