Die falsche Zahl

0,7 Prozent ist tot, es lebe 0,15 Prozent!
0,7 Prozent ist tot, es lebe 0,15 Prozent!

Versprechen, Entschuldigen, Fordern: Ein halbes Jahrhundert schon dauert das bizarre Theater um das 0,7-Prozent-Ziel. Höchste Zeit, sich davon zu verabschieden – und sich lieber um eine andere Zahl zu streiten.

Anfang der Woche haben die Mitglieder der Europäischen Union einmal mehr bekräftigt, dass sie ihre Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung anheben wollen – und die meisten oppositionellen Entwicklungspolitiker und Hilfsorganisationen reagieren empört. Verkehrte Welt? Nein, denn die Kritiker der EU-Stellungnahme zur Entwicklungskonferenz im Juli in Addis Abeba vermissen ein Datum, bis wann dieses Ziel erreicht sein soll. Das haben die EU-Außenminister tatsächlich offen gelassen – aber dafür sollte man sie nicht schelten, sondern loben.

Fast ein halbes Jahrhundert ist das 0,7-Prozent-Ziel alt, in den vergangenen Jahrzehnten haben die Geberländer zu verschiedenen Anlässen immer wieder zugesagt, es bis zu einem bestimmten Datum zu erreichen. Nur eine Handvoll Länder hat sich daran gehalten, der große Rest hat es ignoriert und sich zu den wiederkehrenden Stichtagen mehr oder weniger überzeugende Entschuldigungen ausgedacht, warum man es wieder nicht geschafft hat.

Mit der internationalen Entwicklungshilfe ist in den vergangenen 50 Jahren bergauf und bergab und wieder bergauf gegangen. Ob  die reichen Länder ihre Leistungen für die armen erhöhen, hängt von einer Vielzahl Faktoren ab: Interessen, Geopolitik, wirtschaftliche Lage, Innenpolitik. Das 0,7-Prozent-Ziel spielt bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn die EU jetzt erklärt, man beabsichtige die Entwicklungshilfe zu steigern, sich aber nicht auf ein Datum festlegt, durchbricht sie das bizarre Ritual aus Versprechen und Entschuldigung und neuen Versprechen. Damit kehrt ein Stück Ehrlichkeit in die Debatte ein.

Schade ist, dass eine viel wichtigere Vorgabe aus der EU-Erklärung in den meisten Stellungnahmen dazu gar nicht beachtet wird: das 0,15-Prozent-Ziel. 2001 vereinbarten die wichtigsten Geber, ihre Hilfe für die ärmsten Länder auf mindestens diesen Anteil ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Diese Vorgabe ist sinnvoller als die pauschalen 0,7 Prozent, weil sie die Frage der Höhe mit der nach dem Nutzen verbindet. Die ärmsten Länder sind am stärksten auf öffentliche Hilfe angewiesen, weil sie kaum Zugang zu anderen Geldquellen haben. Auch dieses Ziel haben nur wenige Geber erreicht, 2012 lagen sie zusammen erst bei 0,09 Prozent. Höchste Zeit, dass die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft und Politiker dieses Versäumnis stärker in den Blick nehmen.

Tillmann Elliesen

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Einmal mehr kann man beim Lesen des Artikels zur Einsicht kommen, es ist falsch auf die Entscheidungen von denen "da oben" zu warten. Unsere gewählten Volksvertreter vertreten immer deutlicher nicht die Interessen ihrer Wähler. Sie sind oft in einem erschreckenden Ausmaß Lobbyisten, wobei sie sich gern von der Versorgung nach Abschluss ihrer Arbeit als Gewählte leiten lassen. Unter der Überschrift "Entwicklungshilfe" erwarte ich Hilfe für den Einzelnen und nicht Aufbau von Absatzmärkten für unseren Export. Die kirchliche Entwicklungshilfe ist auf dem richtigen Weg und welt-sichten sollte öfters von den erfolgreichen Projekten in den Ländern berichten. Hier hat jeder Interessierte die Möglichkeit sich selbst einzubringen mit Geld, mit Sachleistungen und persönlichem Engagement. Bis dahin gibt es eine Fülle von Anregungen, von denen ich nur einige aufzählen möchte. Die Initiative von Gaby Schwarz BONERGIE, bei der mit Solarstrom neue Einkommensquellen entstehen, den Verein BSPW in Uganda, wo rund um Fahrräder Arbeitsplätze entstanden sind, die Initiative von Otfried Meier/Sri-Lanka-Hilfe, der mit privaten Spenden nach dem Tsunami ein Waisenhaus mit Schule geschaffen hat, die Werkstatt von Kurt Koch im Senegal, der mit einer Schreinerei aus dem Nichts Dutzenden Menschen Arbeit gibt. Daneben rate ich stets, das unterhaltsame Buch "Gebt den Frauen das Geld" zu lesen, das auf den Beobachtungen von M.Yunus zur Förderung von Selbständigkeit basiert. Bei diesen Beispielen versickert kein Geld und es wird kein Wasserkopf ernährt. Nicht zuletzt sei auf den Senior Expert Service SES hingewiesen, für den ich selbst tätig bin. Eigeninitiative erfordert Mut, Ausdauer und Ideen, es könnte einem übel werden, wenn man die Leistungen aus Privatinitiative dem staatlichen Tun gegenüberstellt. Herr Elliesen, Ihren Bericht verstehe ich als Abgesang auf staatliche Entwicklungshilfe. Das wäre gut so, nun gilt es die Lücken zu füllen mit persönlichem Einsatz und darüber zu berichten.

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Lieber Herr Lohmann,

ein Abgesang auf die staatliche Entwicklungshilfe soll mein Kommentar eigentlich nicht sein. Eher ein Plädoyer an die entwicklungspolitische Szene, wertvolle Energie nicht in sinnlose Grabenkämpfe über Zehntelprozente mehr oder weniger Hilfe zu vergeuden. Und was nun Ihr Loblied auf die vielen kleinen Projekte aus Eigeninitiative betrifft: Derlei gesellschaftliches Enagegement ist ohne Zweifel wichtig, aber auch manche dieser gut gemeinten Miniprojekte richten bekanntlich mehr Schaden als Nutzen an.

Tillmann Elliesen

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Lieber Herr Elliesen, von den von mir genannten Beispielen hat keines Schaden angerichtet. Das weiß ich genauer als Sie, denn ich habe selbst Zeit u/o. Geld investiert. Meine Aufzählung hat den Zweck, Ihnen Ansatzpunkte und Gelegenheit zu geben, sich selbst ein klares Bild zu machen. Wie ich an Ihrer flotten Antwort erkenne, haben Sie sich nicht die Mühe gemacht, meinen Anregungen nachzugehen. Dafür haben wir heute Google oder wo immer Sie den Tatsachen nachforschen. Mit Ihren Vokabeln "Miniprojekte" und "mehr Schaden als Nutzen" laufen Sie Gefahr, sich lächerlich zu machen. Wer immer durch eine Privatinitiative zu Arbeit und Zukunftschancen kam, hat aufgehört nutzlos auf Geldsegen oder Ideen von staatlicher Seite zu warten. In Ihrer "entwicklungpolitischen Szene" ist zu viel heiße Luft. Die Macher halten es mehr mit Erich Kästner.
"Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es."

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Es ist interessant zu sehen, welche Seite, die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) wie sieht - im weitersten Sinn als auch im Detail. Für Herrn Elliesen wäre es sicher nicht schwer, mit anderen Interessierten endlich eine Positiv-EZA-Projektdatenbank zu erstellen. Herrn Lohmann möchte ich das Buch von Daniel Rössler "Das Gegenteil von Gut .... ist gut gemeint" (Verlag Seifert) empfehlen. Hier können Sie die Argumentationslinie von Herrn Elliesen verstehen. Was ich nicht verstehe ist, dass sichtbar gute Projekte wie SONGHAI Film (http://afrika.arte.tv/blog/?p=2203), SEKEM Film (http://www.youtube.com/watch?v=5lqKpFHU8is) und BRAC (http://www.brac.net) nicht als Beispiel für vorbildhafte Wirkung in den praktischen EZA-Alltag in den Vordergrund getragen werden. Im Hintergrund liegt die Frage “Wollen wir wirklich helfen?” mit all den daraus resultierenden Folgen. Wie entwickeln sich die Rohstoffpreise wenn alle Menschen mindestens EURO 100.- Euro (kaufkraftangepasst) verdienen würden. Wenn wir bedenken, dass ein österreichischer Pensionist ca. 1200 Euro verdient, kann er kaum von Fair-Trade-Produkten leben.
Hier die Wiederholung der Frage: Wollen wir wirklich helfen. Nein, denn die “Wasserkopfstrategie” der bezahlten Helfer zeigt es seit 50 Jahren: Nichts, außer mehr Geldforderungen. Die nicht entwickelte Konsolidierung zu funktionierenden Größenordnungen der vielen guten "kleinen Projekte" bringt derzeit auch nicht die relevante Systemänderung. So erhebt sich die Frage nach einer neuen Strategie – wenn wir wirklich helfen wollen.
Gerhard Karpiniec
Laxenburg/Österreich

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