Das indianische Jahrhundert

Leo Gabriel und Herbert Berger (Hg.)
Lateinamerikas Demokratien im Umbruch
Mandelbaum Verlag, Wien 2010,
340 Seiten, 19 Euro


Die Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre in Lateinamerika sind mehr als ein politischer Linksruck und eine Reaktion auf die neoliberale Ära der 1990er Jahre. Es handelt sich um einen kulturellen Wandel von der repräsentativen Demokratie westlichen Zuschnitts hin zu einer partizipativen Demokratie. Die sei keine Erfindung der neuen Machthaber, sondern ein Modell, das von den indigenen Bevölkerungsgruppen seit Jahrhunderten gelebt werde – so eine der Kernaussagen dieses Sammelbandes, der allen an Lateinamerika Interessierten eine wichtige Perspektive eröffnet. Dass nicht alle Beiträge dem wissenschaftlichen Anspruch des Projekts genügen, kann man in Kauf nehmen.

Da verwundert es kaum, dass Bolivien, das mit rund zwei Drittel den größten indigenen Bevölkerungsanteil des Subkontinents hat, am stärksten umgekrempelt wird. Anders als von außen wahrgenommen habe das Land seit dem Wahlsieg des indianischen Präsidenten Evo Morales 2005 nicht nur eine Umverteilung zugunsten der armen indigenen Bevölkerung erreicht, sondern auch formaldemokratisch große Fortschritte gemacht, schreibt Robert Lessmann. So seien seit 2005 mehr als 1,5 Millionen neue Wahlberechtigte eingeschrieben – nicht dank des Bevölkerungswachstums, sondern weil so viele zuvor kein Ausweispapier besaßen.

Zwiespältig fällt die Bilanz zu Venezuela aus. Christi-an Cwik stellt die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Armenvierteln dar, bescheinigt aber dem seit mehr als zwölf Jahren regierenden Hugo Chávez Mängel bei der Entwicklung der Demokratie. Die Bürgerräte etwa, die eine ständige politische Beteiligung der Bevölkerung auf allen Ebenen ermöglichen sollten, seien nicht mehr als Komitees zur Umsetzung kommunaler Projekte wie Straßenpflasterung oder Trinkwasserversorgung.

Gut kommt Argentiniens Präsidentin Cristina de Kirchner weg. Wenngleich die Autorin Viviana Uriona die von Kirchners Mann und Vorgänger Néstor Kirchner eingeleitete Reformpolitik als nicht so tiefgreifend wie die in Bolivien oder Venezuela betrachtet, erkennt sie doch mehr als nur kosmetische Veränderungen. So sei mit dem neuen Mediengesetz mehr Partizipation und Meinungsvielfalt möglich geworden. Als echte Rückschläge auf dem Weg zu dauerhaften politischen Veränderungen werden Chile und Honduras beleuchtet. In Chile sei infolge der Fehler der zwei Amtsperioden regierenden Sozialisten der Milliardär Fernando Piñeira zum Staatschef gewählt worden, der, so Herbert Berger bei der Präsentation des Buches, „eine Regierung der Unternehmer für die Unternehmer“ betreibe. Besonders geht er auf die Situation der Mapuche im Süden des Landes ein. Die haben schon unter der Sozialistin Michelle Bachelet wenig Gehör gefunden, doch jetzt hätten die Ureinwohner noch weniger Aussichten, sich gegen die Interessen der Holz-, Energie- und Bergbaukonzerne durchzusetzen.

Abgerundet wird der Band mit einem Beitrag über das „buen vivir“ (sumak kawsay), das indianische Gegenkonzept zum Wohlstand durch unaufh örliches Wirtschaftswachstum. Es wird als Zukunftshoffnung dargestellt, deren Zeit aber vielleicht erst kommt, wenn es für die Menschheit und den Planeten schon zu spät ist.


Ralf Leonhard

 

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