Anregungen zur Ambivalenz der Religion

Anne-Marie Holenstein (u.a.)
Religionen – Potential oder Gefahr?
Religion und Spiritualität in Theorie und Praxis der Entwicklungszusammenarbeit
LIt Verlag, Wien und Bern 2010,
205 Seiten, 18,90 Euro


Die vorliegende Studie verpasst meiner Ansicht nach einen zentralen Punkt im Übergang von der Mission zur Entwicklungszusammenarbeit: die schmerzliche Periode der Entkolonialisierung. Der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman hatte 1949 mit seiner „Four Point“-Rede die Entwicklungspolitik begründet und eingeleitet. Diesem für den Westen wichtigen Ereignis müsste viel gewichtiger die Welt des Südens entgegengesetzt werden, wo sich 1955 im indonesischen Bandung afrikanische und asiatische Länder zu einer Blockfreien-Bewegung zusammenschlossen, mit dem Ziel, den Kolonialismus zu bekämpfen. Mit der Unabhängigkeit vieler Staaten um 1960 ging etwas zu Ende, das sich zuvor verdeckt als Missionierung und Religion ausgegeben hatte.

Im Westen wurde dieser historische Übergang zum Teil bis heute nicht wahrgenommen oder als rein politische Erklärung missverstanden. Mission und somit Religion waren aufgrund des Kolonialismus fragwürdig geworden. Es war daher auch die Stunde der westlichen Aufklärer und Linken, Atheisten und Kommunisten, die in Bausch und Bogen auf diesem etwas verwirrenden Hintergrund jegliche Religion verwarfen. Zu Beginn der Entwicklungszusammenarbeit wollten die Engagierten die Kirchen – und weitgehend auch Religion – „draußen“ haben. So unterschied man zwischen Mission und Entwicklung. Nun kommt die Religion langsam zurück, oft verworren und versteckt zwischen Spiritualität und Esoterik, Magie und sogar Hokuspokus.

Man spürt natürlich den wissenschaftlichen Hintergrund der Studie, in der möglichst viele Autoren zitiert und kommentiert werden. Der Praktiker vermisst Konkretes und Aktuelles; es fehlt an Anschaulichkeit. Es geht um den theoretischen Vorgang der Rückkehr der Religion in die Entwicklungszusammenarbeit. Die Studie stellt zu wenig historische Bezüge her und ist sie zu eurozentrisch. Es wird zu wenig klar zwischen Religion, Kirchen, Konfessionen, „Sekten“ und Spiritualität unterschieden. Kultur und Religion sind Geschwister.

Ich vermisse ferner die Einarbeitung der wichtigen Vorgänge innerhalb der protestantischen und der katholischen Kirche, wie der Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954, Neu Delhi 1961 und Uppsala 1968 sowie des 2. Vatikanischen Konzils 1962-1965. Auch hätte mehr über die Hilflosigkeit gegenüber dem Islam einfließen müssen, denn das ganze Problem ist nur in diesem breiten Kontext fassbar. Wie die Fallstudien aus der Karibik, Lateinamerika, Nordafrika, Afghanistan und Jugoslawien zeigen, gehen manche Entwicklungshemmnisse etwa bei der Gleichstellung der Frauen primär auf traditionelle Werte, die zum Teil von der Religion aufgenommen und weitergeführt wurden und noch heute prägend sind, zurück. Man hätte daher wohl mehr mit der Multi-Religiosität arbeiten sollen.

Wie Entwicklung niemals eindimensional abläuft, so erst recht nicht Religion. Zentral ist und bleibt die Ambivalenz. Alles kann sich ins Gegenteil kehren; gut bleibt nicht immer gut; nichts bleibt ewig böse. Religion ist genauso ambivalent wie Entwicklung. Auch Berührungsängste müssten vermehrt überwunden werden; so war es zwar erstaunlich, aber dennoch wegbereitend, dass die Weltbank der Religion mit der Gründung einer Abteilung „Development Dialogue on Values and Ethics“ zur Stärkung der Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen, darunter dem Weltkirchenrat, Beachtung geschenkt hat.

Das Buch gibt viele Anregungen. Es gilt nun, weiter zu denken, um zu konkretisieren; sich mit dauernden Widersprüchen zu befassen, nicht nach Verallgemeinerungen, sondern nach lokalen Anpassungen zu suchen.


Al Imfeld

 

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