Der lange Schatten von Augusto Pinochet

Cristian Alvarado Leyton (Hg.)
Der andere 11. September.
Gesellschaft und Ethik nach dem Militärputsch in Chile

Westfälisches Dampfboot, Münster
2010, 261 Seiten, 24,90 Euro


Nur wenige bringen den 11. September noch mit dem Militärputsch 1973 in Chile in Verbindung. Der Sammelband mit Beiträgen von 16 chilenischen und deutschen Autorinnen und Autoren will dafür sorgen, dass dieser „andere“ 11. 9. nicht in Vergessenheit gerät. Er kommt genau zur richtigen Zeit: im März 2010 haben nach 20 Jahren großer Koalition („Concertaci-ón“) die Konservativen und „Pinochetistas“ wieder die Macht übernommen. Das Buch geht der Frage nach, warum das in den knapp 17 Jahren der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet geprägte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell so beständig ist.

Johanna Viktorin eröffnet den Band mit ihrem „Brief aus Santiago“ über Leid und Terror, die der Putsch und die Diktatur über die chilenische Bevölkerung gebracht hatten. Bernd Eisenbürger von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn erinnert an Etappen der Solidaritätsbewegung und beschreibt, wie die Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Chile, Uruguay und Argentinien das neoliberale Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell mit Brachialgewalt durchsetzten. Urs Müller-Plantenberg, ein Urgestein der Chile-Solidarität, untersucht den Wandel der politischen Mobilisierung in den verschiedenen Phasen nach dem Putsch bis heute.

Infolge der Knebelung beziehungsweise Entmachtung von Parteien und Gewerkschaften entstanden in Chile in den 1980er Jahren neue soziale Bewegungen: Frauen organisierten sich, Indigene meldeten sich zu Wort, die solidarische Ökonomie fand Nischen in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Menschenrechtsgruppen formierten sich. Nach der Wende 1990 waren die auf die demokratischen Regierungen gerichteten Erwartungen groß, aber sie erfüllten sich nur zum Teil. Besonders enttäuscht äußert sich der chilenische Jurist Isidoro Bustos, der gar ein bruchloses Fortbestehen der autoritären, neoliberalen Gesellschaftsordnung erkennt. Als dürftig bewertet auch die Politikwissenschaftlerin Ingrid Wehr die „nachautoritären Aufarbeitungsanstrengungen in Chile“.

Einen anderen Erklärungsversuch unternimmt Jorge Rojas Fernandez, der sich mit der Frage befasst, warum es in Chile zu der politischen Krise kam, die dann in den Wahlsieg des konservativen Sebastian Pinera mündete. Für ihn fehlte es während der Concertación-Zeit schlicht an Mitspracherechten für die Bevölkerung. Laura Glauser untersucht schließlich, warum und wie stark sich die neoliberale Ideologie – „der Chilene als Unternehmer seiner selbst“ – durchsetzen konnte. Unisono richten sich die Hoff nungen der Autoren für Veränderungen auf die Kraft der sozialen Bewegungen. Ein literarisches Kleinod, bissig-kritisch, findet sich in den fünf „Chroniken“ des chilenischen Schriftstellers und Kulturkritikers Pedro Lembel: Sie handeln vom Schmuck, den die chilenischen Oberschichtfrauen der Diktatur als Nothilfe vermachten, oder von einem Haus, in dem die gute Gesellschaft sich an hochgeistiger Literatur ergötzte, während im Keller gefoltert und gemordet wurde.

Der Sammelband liefert zwar keine umfassende Bestandsaufnahme der vergangenen 40 Jahre in Chile, aber eine Vielzahl an interessanten Einblicken in unterschiedliche Denk- und Erfahrungswelten. Es wird zur Lektüre empfohlen.


Werner Würtele

 

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