Unbestechlicher Blick auf den Mangel an Frauen

Mara Hvistendahl
Das Verschwinden der Frauen.
Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen
DTV-Verlag, München 2013, 
424 Seiten, 24,90 Euro

Wie sähe eine Welt ohne Männer aus? Keine Gewalt, keine Kriege und lauter glückliche, dicke Frauen. Es besteht derzeit keine Gefahr, dass dieser gern zitierte Spruch an der Wirklichkeit überprüft wird. Im Gegenteil: Die Welt, zumindest der asiatische Teil, füllt sich mit immer mehr Männern, während der Anteil der Frauen sinkt. Das als ausgewogen geltende Verhältnis von 100 weiblichen Geburten auf 105 männliche ist in Ländern wie China und Indien, aber auch in Aserbaidschan, Georgien und Armenien längst aus dem Gleichgewicht geraten.

Das liege vor allem an der inzwischen weit verbreiteten Möglichkeit, per Ultraschall das Geschlecht eines Fötus noch im Mutterleib zu bestimmen, schreibt Hvistendahl. Ist es ein Mädchen, entscheiden sich viele Eltern für eine Abtreibung. „Wenn du keinen Sohn hast, verlierst du dein Gesicht“, sagt die Chinesin Liao Li. Frauen, folgert Hvistendahl, seien in gewisser Hinsicht ihre eigenen Feinde geworden. Sie sieht das auch als ein Ergebnis der Bemühungen, ihnen mehr Autonomie zu verschaffen. Die nutzen sie nun dazu, auf Söhne zu selektieren. Ein Widerspruch, den auch Liao Li zugibt.

Es ist nicht der einzige, den Hvistendahl in ihrem gut recherchierten Buch aufspürt. Die Journalistin, die unter anderem für die „Financial Times“ und „Foreign Policy“ schreibt, zeichnet ein vielschichtiges Bild der selektiven Geburtenkontrolle und ihrer Folgen. Sie hat dafür kaum Mühen gescheut: Sie unternimmt Ausflüge in die europäische, die US-amerikanische und die Kolonialgeschichte, trägt Forschungsergebnisse zusammen und spricht mit Demografen, Ökonomen, Abtreibungsgegnern und Reproduktionsmedizinern in aller Welt. Geschickt verknüpft sie ihre Analyse mit den Lebensgeschichten von Vietnamesinnen, die nach Taiwan zwangsverheiratet wurden, und von Opfern von Frauenhandel, die als Prostituierte arbeiten müssen. Sie erzählt von Junggesellen, denen es wohl nicht gelingen wird, eine passende Ehefrau zu finden, und die ihr überschüssiges Testosteron mit Hilfe von Kriegsspielen abreagieren. Das ist immer noch besser, als wenn sie gewalttätig werden – was ebenfalls häufig vorkommt, wie Hvistendahl belegt.

Die Autorin verbirgt nicht, dass sie die Entwicklung, die sie beschreibt, zutiefst beunruhigt

Eine Welt ohne Frauen wäre kein angenehmer Ort – weder für Frauen noch für Männer. Denn entgegen der wirtschaftswissenschaftlichen Weisheit, dass der Wert einer „Ware“ mit ihrer Knappheit steigt  ist gegenüber den weniger werdenden Frauen keine wachsende Wertschätzung zu beobachten. Im Gegenteil: In Taiwan etwa verhökerte das Internetauktionshaus Ebay vietnamesische Bräute als Schnäppchen, für umgerechnet 5400 US-Dollar. Umgekehrt fallen viele Männer auf falsche Versprechen von Heiratsvermittlern herein und stehen am Ende mit leeren Händen da. Die Ansprüche der Frauen und ihrer Eltern steigen und setzen die Bewerber unter Druck.

Der Heiratshandel verändere Gesellschaften aber nicht nur zum Schlechteren, erklärt Hvistendahl. In Südkorea und Taiwan etwa führten binationale Ehen dazu, dass die gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen gemischtrassischer Abstammung abnehme. Darüber hinaus könnten Frauen, die als Bräute in ferne Länder ziehen, oft Geld nach Hause schicken und so das Einkommen ihrer Familie aufbessern helfen.

Ihr unbestechlicher Blick macht Hvistendahls Buch lesenswert. Dazu ist es auch noch spannend und humorvoll geschrieben. Dabei verbirgt die Autorin nicht, dass sie die Entwicklung, die sie beschreibt, zutiefst beunruhigt. Zumal es offenbar wenig Hoffnung gibt, dass sich der Trend zur selektiven Geburtenkontrolle stoppen lässt. Zum Schluss des Buches beschreibt Hvistendahl nämlich ihren Besuch in einer Fertilitätsklinik in Los Angeles. Und aus ihren Gesprächen mit Wissenschaftlern und Ärzten dort wird klar: Viel eher besteht die Gefahr, dass Eltern künftig nicht nur das Geschlecht ihres Nachwuchses bestimmen möchten, sondern auch noch die Haar-, Haut- und Augenfarbe – und wenn das je möglich sein sollte, die Intelligenz. (Gesine Kauffmann)

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