Reisender zwischen den Welten

Jared Diamond
Vermächtnis. Was wir von traditionellen
Gesellschaften lernen können
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012,
586 Seiten, 24,99 Euro

 

In Diamonds Sprachgebrauch findet sich der Begriff „Indigene“ nicht. In seinem neuen Buch redet er von „traditionellen Gesellschaften“ und meint damit Stämme, die noch als Jäger und Sammler leben. Von ihnen können wir viel lernen, glaubt er. Ist das Buch also eine „Kritik unseres modernen Selbstverständnisses“, wie es im Klappentext heißt?

Einige Medien fühlten sich jedenfalls herausgefordert und antworteten mit einem Systemvergleich: moderne westliche versus traditionelle Gesellschaft.  Eindeutiger Sieger: unser Gesellschaftssystem. So schrieb etwa die „Zeit“: „Umso schärfer sind die Qualitäten der Moderne zu erkennen, je tiefer man sich durch die Lektüre auf die traditionellen Gesellschaften einlässt.“  Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ entnimmt Diamonds Buch Belege dafür, dass die westliche Industriegesellschaft das bessere System sei. „Nomadisierende Horden“ könnten es sich etwa schlicht nicht leisten, ihre Alten wertzuschätzen. „Aussetzung, nahegelegter Selbstmord und Mord mit Einstimmung des Opfers“ gehörten „ins Repertoire“.

Kein Wunder also, dass die Menschenrechtsorganisation Survival International, die sich weltweit für die Rechte indigener Völker einsetzt, das Buch heftig kritisiert. Direktor Stephen Corry weist die These, dass indigene Völker gewalttätiger als industrialisierte Gesellschaften seien, als „gefährlichen Unsinn“ zurück. Sie knüpfe an die koloniale Idee an, indigene Bevölkerungen müssten „befriedet“ werden, kritisiert er. Diamond füge, meint Corry, seine Stimme zum sehr einflussreichen Sektor der amerikanischen Hochschulen hinzu, die sich bemühten, überholte Karikaturen indigener Völker wieder aufzuwerten.

Der Autor selbst sieht die Sache pragmatisch: „Wir sollten das Schlechte aus den traditionelle Gesellschaften bleiben lassen, also nicht die alten Menschen aussetzen oder Babys umbringen, wenn sie behindert sind, und nicht ständig Krieg führen. Andererseits sollten wir nachahmen, was von Wert ist. Wir sollten einfach sehen, was sinnvoll ist.“ Lernen können wir von traditionellen Gesellschaften seiner Meinung nach zum Beispiel, am Esstisch kein Salz auf die Lebensmittel zu streuen. Fast im gleichen Atemzug genannt mit dem Erdrosseln von Witwen, das wir erfreulicherweise los seien, klingt das allerdings eher makaber.

Eine glückliche Hand hatte der Verfasser des Bestsellers „Kollaps – warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ beim Formulieren dieses Buches an vielen Stellen wirklich nicht. Dennoch: Vielleicht sollte man es einfach unaufgeregt als Vermächtnis eines westlichen Anthropologen lesen, der 50 Forscherjahre lang zwischen zwei sehr unterschiedlichen Gesellschaftsformen hin und her gependelt ist und nun versucht, die Vor- und Nachteile beider zu beschreiben.

Er selbst sieht die westliche Zivilisation dabei nicht in jeder Hinsicht als überlegen an. Diamond in einem Interview: „Eine rutschige Dusche kann gefährlicher sein als der Dschungel – das ist eines der Dinge, die ich gelernt habe.“ (Anja Ruf)

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