Der Bäcker und der Präsident

Roberto Ampuero
Der letzte Tango des Salvador Allende
Bloomsbury, Berlin 2013
445 Seiten, 18,99 Euro
 
Der ehemalige CIA-Agent David Kurtz kehrt fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur nach Chile zurück. Seine verstorbene Tochter Victoria hatte ihn gebeten, einen Freund zu finden und diesem ein altes Tagebuch zurückzugeben. Als Anhaltspunkte besitzt er lediglich einen Namen und ein verblichenes Foto, auf dem Victoria gemeinsam mit ein paar jungen Leuten abgebildet ist. Kurtz macht sich auf die Suche nach einer Person, findet aber eine Geschichte, die ihm die Folgen seines damaligen Handelns deutlich vor Augen führt.
 
Die späte Gewissensprüfung des fiktiven US-amerikanischen Agenten, der half, die Regierung des demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende zu destabilisieren, ist einer von zwei wichtigen Erzählsträngen. Der zweite steckt in den alten Tagebuchaufzeichnungen, die Kurtz aus dem Spanischen übersetzt. Es stellt sich heraus, dass sie von einem (ebenso fiktiven) Bäcker namens Rufino verfasst wurden, der in den letzten Monaten vor dem Umsturz ein enger Vertrauter Allendes war. Der Autor erzählt virtuos auf mehreren Zeitebenen und mit unterschiedlichen Perspektiven. In der Summe gelingt ihm ein spannend zu lesender Beitrag über eines der zentralen Ereignisse des Kalten Krieges, dessen Traumata bei ihm und vielen seiner Landsleute bis heute nachwirken.

Im Zentrum des Buches steht eine Detektivgeschichte, in der Elemente eines Thrillers enthalten sind: Kurtz befragt alte Gewährsleute und ehemalige CIA-Spitzel, reist einigen von ihnen bis in die Atacama-Wüste und nach Leipzig hinterher, wo ein Teil der unter Pinochet emigrierten Chilenen lebt. Er erkennt, dass Victoria nicht das politisch desinteressierte Mädchen war, für das er sie damals hielt. Im Gegenteil: Sie war eine engagierte junge Frau, die intuitiv die Nähe zu Menschen suchte, die sich für eine bessere Welt einsetzten und deren Weltsicht von einem Politiker wie Salvador Allende ideal verkörpert wurde. David Kurtz muss sich fragen, ob in Victorias letztem Wunsch vielleicht ein Element von Vergeltung für seine Beteiligung am Umsturz und am Verlust der Hoffnungen zahlreicher Menschen liegt.

Mit Hilfe der Tagebucheintragungen des Bäckers gewinnt der Ex-Agent Einsichten in die Lage des Präsidenten: Als es aufgrund der Versorgungsengpässe kein Mehl mehr zu kaufen gibt, wendet sich Rufino an seinen alten Bekannten Allende, mit dem er Jahrzehnte zuvor gemeinsam politisch aktiv war. Der Machthaber, der sich zunehmend von Gegnern umgeben sieht, fasst Zuversicht und engagiert den Jugendfreund als Mädchen für alles. So wird der Bäcker zu einem der letzten Vertrauten des Präsidenten und – viel später – zum Gewährsmann für den nach Sinn suchenden CIA-Mann.

Rufinos Tagebuch besteht aus Szenen, die der Romancier Ampuero frei erfunden hat. Sie basieren jedoch auf zahlreichen historisch verbürgten Fakten und treffen schlüssige Aussagen über die Motive, Erfahrungen und Verhaltensweisen des historischen Salvador Allende. Nach einem Staatsbesuch in Moskau, bei dem die Führung der Sowjetunion der chilenischen Volksfrontregierung keine Kreditzusage macht, sitzen Allende und Rufino bei melancholischer Tangomusik zusammen und sinnieren über das kaum noch abwendbare Schicksal. Der Präsident glaubt, dass die Sowjets von einem möglichen Militärputsch in Chile profitieren würden: Die Weltrevolution brauche Siege und Niederlagen, Schlachtengesänge und Trauermärsche, Helden und Märtyrer. „Ich fürchte, Leonid und seine Leute haben bereits einen Platz in der Geschichte für uns reserviert.“ (Thomas Völkner)

erschienen in welt-sichten 9-2013

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