Vielfältige Stimmen des Widerstands

Elina Fleig, Madhuresh Kumar, Jürgen Weber (Hg.)
Speak up! Sozialer Aufbruch und Widerstand in Indien
Assoziation A, Berlin/ Hamburg 2013, 320 Seiten, 18 Euro

Speak up! bedeutet: Erhebt die Stimme! Und genau das tun sie in diesem Sammelband, die Aktivistinnen und Aktivisten sozialer Bewegungen in Indien. Über welche Themen sie berichten wollten und wie, konnten sie dabei entscheiden. Das spiegelt sich auch in dem Buch wider – es ist mehr Beschreibung als Analyse, wie die Herausgeber einräumen.

Die Texte und Interviews sind größtenteils zwischen Mai und Oktober 2012 entstanden, also noch bevor das Land durch Proteste nach einer Gruppenvergewaltigung in die Schlagzeilen geriet. Überholt ist das Buch dadurch nicht: Man erhält Einblicke in die Kämpfe vielfältiger Initiativen und Netzwerke – wie die Proteste  südindischer Fischerdörfer gegen das Atomkraftwerk Kudankulam. Im September 2012 wurde ein Fischer erschossen, als 7000 Spezialeinsatzkräfte, bewaffnete Militärs und die Marine gegen eine friedlich demonstrierende Menge vorgingen. 52 Frauen, Kinder und Männer wurden der Verschwörung und Aufwiegelung gegen den Staat beschuldigt und verhaftet. Die Proteste halten dennoch weiter an.

In vielen Beiträgen lernt man geschichtliche Hintergründe kennen. In den 1980er und 1990er Jahren mobilisierten sich Frauen, Umweltschützer, Dalits, Adivasis, Bauern, Arbeiter. Später kamen Stadtbewohner hinzu. In Ausrichtung und Strategie sind all diese Bewegungen sehr heterogen, oft arbeiten sie nur punktuell zusammen und entwickeln keine gemeinsamen Positionen. Eine große Gemeinsamkeit sehen die Herausgeber des Buches dennoch: Einig seien sich die Aktionsgruppen, Basisorganisationen und Netzwerke in der Kritik am neoliberalen Wirtschaftsmodell. In den Kämpfen sozialer Bewegungen an vielen Orten und auf verschiedenen Ebenen zeichne sich in Ansätzen ein Gegenentwurf zu dem von der indischen Regierung eingeschlagenen Entwicklungsweg ab.

Allerdings ist die neoliberale Modernisierung nicht in jedem der Texte das Feindbild. So erzählt etwa der Dokumentarfilmer Sridar Rangayan, wie schwierig es früher war, sich als Schwuler zu outen, und wie sich seit Beginn der 1990er Jahre eine Bewegung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen entfaltet hat – trotz der Behauptung, Homosexualität sei ein westliches Importgut.

Zweifellos richtig ist, dass sich in Indien viele – laut dem Buch sogar die Bevölkerungsmehrheit – auf der Verliererseite des Wirtschaftswachstums befinden. Staudämme, Minen, Nationalparks und Indu-strieprojekte haben 21 Millionen Menschen aus ihren Dörfern vertrieben; rund 40 Prozent von ihnen sind Adivasis, schreibt Pushkar Raj in seinem Beitrag „Schwindende demokratische Räume“. Der Widerstand der indigenen Bevölkerung ist besonders militant und es wird besonders brutal gegen ihn vorgegangen.

Mehrere Beiträge nehmen Bezug auf den Konflikt zwischen den maoistischen Naxaliten, die den indischen Staat stürzen wollen, und der Regierung. Unter den Adivasis in den Wäldern des Bundesstaates Chhattisgarh haben die Aufständischen zahlreiche Unterstützer. Auch jugendliche Dalits fühlten sich von der radikalen Naxalitenbewegung angezogen, heißt es im Buch. Militanz ist aber keineswegs immer das Mittel der Wahl.

So haben Adivasis CGNet Swara, die „Stimme von Chhattisgarh“, ins Leben gerufen. Hier können Menschen, die Analphabeten sind, keinen Internetzugang haben oder an mündliche Verständigung gewohnt sind, telefonisch Missstände anprangern. Die Nachrichten, die sie hinterlassen, werden dann editiert und auf einer Website gepostet. Das Telefon-Online-Projekt lässt die Medien berichten und Beamte handeln: Ein Schuldirektor, der eine Schülerin belästigt hatte, wurde verhaftet – einer der Erfolge, die soziale Bewegungen in Indien trotz aller Repression auch verzeichnen können. (Anja Ruf)

erschienen in welt-sichten 9-2013

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