Die Sehnsucht nach einem Sohn

Qissa
Regie: Anup Singh
Deutschland/Frankreich/Indien/
Niederlande 2013
110 Minuten, Kinostart: 10. Juli 2014

Das mehrfach ausgezeichnete indische Familienmelodram „Qissa“ verhandelt eindrucksvoll Grundfragen der menschlichen Existenz. Der Film liefert außerdem reichlich Stoff für die Diskussion über den Umgang mit Minderheiten.

1947 wurde die britische Kolonie Indien geteilt, es bildeten sich die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan. Etwa 20 Millionen Menschen wurden vertrieben oder umgesiedelt. Die erzwungene Massenflucht indischer Sikhs aus dem Punjab bildet den Hintergrund für den Spielfilm „Qissa“ des indischen Regisseurs Anup Singh, der 1961 im tansanischen Dar-Es-Salaam als Sohn einer vertriebenen Sikh-Familie geboren wurde.

Der wohlhabende Familienvater Umber Singh muss 1947 angesichts drohender Angriffe militanter Muslime Haus und Hof zurücklassen und flieht mit seiner Familie in sicheres Gebiet im indischen Teil des Punjab. Nach drei Töchtern wird seine Sehnsucht nach einem Sohn immer stärker – die vierte Tochter nennt er Kanwar („junger Prinz“), kleidet und erzieht sie wie einen Sohn. Mit zwölf Jahren erhält Kanwar Unterricht im Ringen und Umber drückt ihm erstmals ein Jagdgewehr in die Hand.

Als Jüngling arbeitet Kanwar als Lastwagenfahrer in der väterlichen Forstwirtschaft. Dort begegnet er dem lebhaften Zigeunermädchen Neelie. Als er sie, um sie zu ärgern, über Nacht in einer abgelegenen Berghütte einsperrt, muss er sie laut Ehrenkodex heiraten – obwohl sie einer niederen Kaste angehört. Die Lage eskaliert, als die Braut Kanwars Geheimnis entdeckt: Sie will fliehen, Umber stellt sie und versucht, sie zu vergewaltigen, um endlich einen Erben zu zeugen. Vom Lärm geweckt, greift Kanwar zur Waffe und erschießt den Vater. Das Paar flieht.

Nun erhält der Film eine zweite, surreale Ebene, denn Kanwar sieht sich vom Geist des Vaters verfolgt. „Er wird uns nicht in Ruhe lassen“, sagt er zu Neelie, die Umber nicht sehen kann. Bis zu diesem Wechsel in der Erzählweise leitet Singh die zentralen Konflikte einleuchtend her. Umber wird als fürsorglicher Familienvater eingeführt, der unter dem Verlust der Heimat leidet. Die kulturelle Entwurzelung begünstigt die Zwangsvorstellung, dass er unbedingt einen männlichen Erben braucht. Der unverzeihliche Gewaltakt gegenüber der Schwiegertochter lässt ihn endgültig zum Familientyrannen mutieren.

Der indische Star Irrfan Khan, der im Westen vor allem durch seinen Auftritt in der Bestsellerverfilmung „Life of Pi“ bekannt ist, gibt dieser gebrochenen Figur eine starke Leinwandpräsenz. An diese Leistung reicht die junge Bengali Tillotama Shome nicht ganz heran, auch wenn sie die innere Zerrissenheit Kanwars überzeugend vermittelt.

Mit der Flucht Kanwars wechselt die Inszenierung in ein Reich symbolschwerer Metaphorik. Die Gesetze der Logik scheinen weitgehend außer Kraft gesetzt; das macht es zuweilen schwierig, zu folgen. Die Akzentverschiebung rückt zudem die zentrale Identitätskrise Kanwars und die konfliktreiche, auch erotisch aufgeladene Beziehung zu Neelie in den Hintergrund.

Ungeachtet seiner präzisen Verankerung im indischen Kulturkreis verhandelt „Qissa“ eindrucksvoll grundlegende Fragen der menschlichen Existenz wie die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Solidarität, Tradition und Moderne sowie zwischen biologischer und psychologischer Identität. Ansatzpunkte für intensive Diskussionen insbesondere über die Toleranz gegenüber Minderheiten liefert der Film also reichlich.

Reinhard Kleber

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