Leben in der Warteschleife

Ben Rawlence porträtiert neun Menschen in Dadaab, dem größten Flüchtlingscamp der Welt. Sein meisterlich geschriebener Bericht vom Alltag in der drittgrößten Stadt Kenias verleiht seinen Protagonisten Menschlichkeit und Würde.

Vor 25 Jahren wurde das Flüchtlingscamp Dadaab im Norden Kenias gegründet. Rund hundert Kilometer von der somalisch-kenianischen Grenze entfernt, sollte es wie die meisten dieser Lager ein Provisorium sein. Die hierher Geflüchteten – vor allem aus Somalia, aber auch aus dem Sudan oder Äthiopien – sollten möglichst bald wieder in ihre Herkunftsorte zurückkehren. Derzeit sieht die Regierung in Nairobi in dem Lager vor allem ein Sicherheitsrisiko, weil es einen Rekrutierungsgrund für somalische Islamisten von al Shabaab biete, und hat angekündigt, es aufzulösen.

Ben Rawlence, ehemaliger Rechercheur für Human Rights Watch am Horn von Afrika, Autor und Journalist, erzählt von neun Menschen in Dadaab. Sie stehen für schätzungsweise eine halbe Million in dem Lager, das die Größe einer Stadt wie Zürich hat. Längst ist Dadaab kein Provisorium mehr, sondern eine von den Vereinten Nationen betriebene Stadt mit allem, was dazugehört: Krankenhäuser und Schulen, Restaurants und Hotels, Polizeistationen, Märkte und Kinos.

„Stadt der Verlorenen“ lebt von der lebendigen Schilderung der alltäglichen Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen der Protagonisten. Da ist der junge Guled, der im somalischen Bürgerkrieg seine Eltern verloren hat und von den Terroristen von al Shabaab zwangsrekrutiert wurde. Guled, ein Fan von Manchester United, konnte fliehen – nach Dadaab. Um nicht in Gefahr zu geraten, hält er seine Vergangenheit um jeden Preis geheim. Da ist Kheyro, die bereits 1992 im Alter von zwei Jahren mit ihrer Mutter aus Somalia geflohen war und es durch harte Arbeit geschafft hat, Lehrerin zu werden. Und Tawane kümmert sich als so genannter Youth Leader um die Belange des Camps zu Zeiten, in denen die Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage ihre Arbeit eingestellt haben.

Der Autor gibt intime Einblicke in das Alltagsleben im Camp und verflicht seine Beobachtungen des Lebens seiner Helden mit den zum Teil grotesken Gegebenheiten, die die Konflikte am Horn von Afrika am Laufen halten. So hängt das Wohl und Wehe der Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers auch davon ab, wie hoch der Preis für Zucker steht. Denn am illegalen und lukrativen Handel mit Zucker sind im Süden von Somalia nicht nur örtliche Warlords und al Shabaab beteiligt, sondern auch hohe Militärs der kenianischen Armee. Unter diesen Bedingungen ist fraglich, ob die Führung in Kenia, die 2011 in Somalia interveniert hat, überhaupt ernsthaft an der Beilegung des Konfliktes interessiert ist.

Gemeinsam ist allen Menschen  in Dadaab das Leben im Transit. Viele richten sich darauf ein, das Lager in naher oder ferner Zukunft verlassen zu können. Doch nur für wenige erfüllt sich der Traum von der Umsiedlung in die USA, nach Australien oder Europa. Einige wagen den gefährlichen und teuren Weg durch die Sahara oder über den Sinai, um nach Europa zu gelangen. Ben Rawlence versteht es meisterlich, den Zahlen zum Flüchtlingselend Leben einzuhauchen. Sein Buch, das Ergebnis einer Recherche unter schwierigen Bedingungen über fünf Jahre hinweg, gibt den Geflüchteten ein Stück der Würde zurück, die sie aufgrund von Krieg, Flucht und Vertreibung verloren haben. Seine leise, behutsame und zärtliche Erzählung sollte sich niemand entgehen lassen.Ruben Eberlein

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Motorrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!