Der Starke und die Kraft der Mythen

In ihrem erstmals auf Deutsch erschienen Roman setzt sich die 1988 verstorbene argentinische Autorin Sara Gallardo mit der „Zivilisierung“ der Indigenen auseinander. Das ist spannend, aber auch rätselhaft.

„Geheimnisvoll“ nennt der Verlag diesen Roman, dessen Hauptfigur, der bärenstarke Eisejuaz, mit Eidechsen sprechen kann. Er, der im Norden Argentiniens lebt, spricht nicht nur mit Tieren, sondern auch mit den Hölzern, den Winden, dem Regen. Und sie alle sprechen zu ihm, überbringen ihm Botschaften des Herrn, die sein Handeln leiten. Sein Dialog mit den „Botenengeln“ ist im Roman ständig präsent: Nachts träumt Eisejuaz bedeutungsschwere Geschichten; früh morgens begrüßt ihn der Botenstern und dann die Sonne, der große Bote.

Diese Art von Dialog ist immer präsent und macht das Mystische oder auch die „archaische Magie“ aus, die dem 1971 in Buenos Aires erschienenen Roman attestiert wird. Nun liegt er erstmals auf Deutsch vor. Kritiker loben, wie intensiv sich Sara Gallardo, eine weiße Argentinierin mit großbürgerlichem Hintergrund, in die Weltsicht ihres indigenen Protagonisten hineinversetzt habe. Wie gut es ihr gelungen sei, eine Sprache zu erschaffen, in der Eisejuaz, aus dessen Perspektive das Buch verfasst ist, seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck verleihen kann.

Das ist tatsächlich eine erstaunliche literarische Leistung. Aber diese Leistung hätte  dennoch einiger Hilfen für eine Enträtselung des Geheimnisvollen und für eine Einordnung des Gelesenen bedurft. Die bietet leider  allein das kurze Nachwort des Übersetzers Peter Kultzen.

Eisejuaz, der den christlichen Namen Lisandro Vega angenommen hat, hat tatsächlich gelebt. Er gehörte zum Volk der Mataco-Indianer, das sich heute Wichi nennt, und war zeitweise Aufseher in einer Mission. Nichts deutet darauf hin, dass er jemals der Pfleger eines kranken Weißen war. Um ein solches Verhältnis allerdings rankt sich im Buch die gesamte Handlung. Es ist wohl der Vorstellung von Sara Gallardo entsprungen, möglicherweise auch ihrer Scham über die Unterdrückung der „Indios“. Und ihrer Fähigkeit, soziale Beziehungen zwischen den Weißen und der kolonisierten indigenen Bevölkerung in ihren Schilderungen der Beziehungen zwischen den beiden Romanfiguren wie mit einem Brennglas zu verdichten.

Der Weiße quält Eisejuaz und macht ihm das Leben zur Hölle. Dieser meint, im Auftrag des Herrn für den Peiniger da sein, ihn sogar mögen zu müssen, obgleich er ihn hasst und verabscheut. Das christliche Gebot der Nächstenliebe wird hier auf die Spitze getrieben – eine Folge der Evangelisation durch christliche Missionare. 1914 hatte ein Norweger in Eisejuaz Wohngegend eine pfingstkirchliche Basis etabliert. Erläuterungen über seine Mission hätten dem Buch gutgetan, bestand ihre Haupttätigkeit doch in der „Zivilisierung“ der indigenen Bevölkerung und dem Kampf gegen deren schamanische Praktiken. Im Buch jagt Hochwürden von der Mission Eisejuaz davon, nachdem er mitbekommen hat, wie der unter Johannisbrotbäumen mit erhobenen Armen zu den „Boten des Herrn“ betete: dem Tapir-Engel, dem Tiger-Engel, dem Nandu-Engel, dem Rokokofrosch-Engel und anderen mehr.

Der Animismus und Schamanismus der Mataco vermischte sich mit den Praktiken der Pfingstkirchler. Der Geist, der in Eisejuaz wohnt und dem er dient, trägt den Namen „Wasser Das Fließt“. Er symbolisiert beides: den Heiligen Geist, von dem sich die Missionare geleitet glaubten, und die Spiritualität des Schamanismus und seine Elementargeister. Und nachdem Eisejuaz „getan hat, was getan werden muss“, erhebt sich Wasser Das Fließt und ist frei.

Diese Freiheit hat letztlich einen hohen Preis, und doch erscheint sie als die einzig mögliche Lösung der Unterdrückung und der Widersprüche, in denen die kolonisierte und missionierte indigene Bevölkerung jener Zeit zu leben gezwungen war.

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