Karl-Albrecht Immel, Klaus Tränkle
Aktenzeichen Armut.
Globalisierung in Texten und Grafiken
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2011
203 Seiten, 19,90 Euro
Laut Weltbank wird das Haupt-Millenniumsziel, die Halbierung von Armut weltweit bis 2015, wahrscheinlich erreicht. Karl-Albrecht Immel weist nach, dass die eigenen UN-Statistiken diese Behauptung widerlegen. Gelegentlich muss er sie freilich erst zurechtrücken, da sie geschönt, teilweise durch veränderte Bezugsgrößen statistisch manipuliert oder schwer vergleichbar gemacht worden sind. Immel führt viele Beispiele für solche Erfolgsrechnungen an. So kündigte die Internationale Arbeitsagentur ILO 2006 einen drastischen Rückgang der Kinderarbeit an – geschickt waren „arbeitende“ von „Kindern in Beschäftigung“ unterschieden und diese schlicht abgezogen worden, ein Stück semantischer Politik, das wiederholt gespielt wird.
„2008 räumte die Weltbank ein, dass es viel mehr extrem Arme gebe als bis dahin angenommen“, schreibt Immel. Noch mehr, so die Weltbank, habe man aber das Ausmaß der Armut unterschätzt – die relativen Fortschritte seien deshalb eher größer als bisher gedacht. „Der Anteil der Menschen mit weniger als 1,25 Dollar Kaufkraft am Tag sei im Vergleich zu 1990 schon fast halbiert.“ Derartige Kunstgriffe vermitteln ein trügerisches Bild. Gravierender noch erscheint aber der Trend, dass man angesichts der drohenden Gefahr, an der Größe des Ziels zu scheitern, dazu übergegangen ist, sich auf einzelne quantitative Maßnahmen zu konzentrieren. Damit habe man sich aber den Blick auf die Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit verstellt.
Die Millenniumziele sollten im neuen Jahrhundert ausgerechnet mit jenen marktwirtschaftlichen Methoden erreicht werden, die am meisten zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen haben: Privatisierung der Wasserversorgung, Einsatz von Gentechnik in der „grünen Revolution“ einer industrialisierten Landwirtschaft, deregulierte Märkte. Die Folge – so Immel: „Je ausgeprägter die Ungleichheit in einer Gesellschaft, desto weniger haben die Armen etwas vom Wirtschaftswachstum in ihrem Land.“ Darüber hinaus verlieren die Entwicklungsländer durch Korruption, Preismanipulation, Geldwäsche, Zollbetrug und Geldtransfer auf Konten im Norden für jeden Dollar Entwicklungshilfe etwa 10 Dollar, insgesamt 1300 Milliarden Dollar jährlich.
Immel erläutert zudem die Folgen der statistischen„Revolution“ bei den Berechnungen der Weltbank von 2008 und der Umstellung auf Kaufkraftparitäten, bei der die Kaufkraft des US-Dollars in die lokale Kaufkraft umgerechnet wird. Diese Rechenakrobatik spielt er am Beispiel von Ländern und Bereichen wie Bildung, Ernährung, Umwelt- und Klimaschutz, Gesundheit oder Rüstung durch. Die eindringliche Analyse, die er durch Vergleich der vorliegenden Daten vorlegt und die Klaus Tränkle mit anschaulichen Grafiken illustriert, zeichnet ein realistisches Bild der Lage. Der bescheidene Erfolg entwicklungspolitischer Anstrengungen gibt ihm aber keinen Anlass zur Resignation. Die Millenniumziele werden nicht zurückgenommen, sondern in einen größeren Handlungsrahmen eingepasst, der über die Märkte hinausweist und klare politische Regelungen einfordert, die von fähigen Staaten und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten initiiert werden müssen.
Dieses Buch hat das große Verdienst, Aufklärung auf einem Gebiet zu leisten, über das die interessierten Bürger in der Regel nur oberflächlich informiert sind. Es ist zudem ein sehr nützliches Arbeitsbuch für engagierte Bürgergruppen, Politikerinnen und Politiker.
Hans Norbert Janowski
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